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Das Kreter-Paradoxon – eine Glosse, aber das könnte ja gelogen sein?

Wenn ein Mensch behauptet, dass alle Menschen lügen, dann lügt er ja und der Satz stimmt nicht? Es ist das alte Kreter-Paradoxon, das aber leicht zu lösen ist, solange es nicht heisst «Alle Menschen lügen immer!» Denn wenn das ‘immer’ fehlt, könnte es ja sein, dass der Mensch, der diesen Satz sagt, genau in diesem Augenblick zur Abwechslung mal nicht lügt und der Satz, dass alle Menschen lügen, trotzdem noch stimmt. Auf jeden Fall können wir locker davon ausgehen, dass der Mensch im Normalmodus, also bei den meisten Aussagen, die er macht, zumindest teilweise lügt. Nicht nur wie die Kinder, um irgendwas zu vertuschen, was möglicherweise eine Bestrafung zur Folge hätte, und auch nicht nur, um sich in ein besseres Licht zu rücken oder – ganz edel – um andere zu schonen, denen wir die Wahrheit nicht glauben zumuten zu können, sondern oft auch schlicht, weil es Spass macht und in viele langweilige Leben eine Prise Challenge und Abenteuer bringt. Denn gut lügen ist auch anspruchsvoll. Leicht verheddert man sich in Widersprüche, Unglaubwürdigkeiten, hat keine Gelegenheit, Zeugen zu briefen oder zum Stillschweigen zu bringen. Zurzeit steckt der vom Boulevard und den Mainstreammedien über Jahre so gehätschelte Kurzzeit-Herodes und Impf-Zampano aus dem Fribourgischen fast schon lehrbuchhaft in der Lügenfalle. Sein treues, hübsch gelocktes Schosshündchen mit dem etwas verschreckten Blick durch die dicken Brillengläser, das ihm alle kommunikativen Wünsche in jeder – auch delikaten – Lebenslage von den Augen las, das sich lieber einen Finger abgeschnitten hätte, als etwas zu tun, was nicht im Sinne seines Paten, Gurus, Brötchengebers gewesen wäre – just der soll nun auch das Kreuz nach Golgatha tragen und für Gottvater sein Leben, seine Freiheit, seinen Ruf, seinen Job lassen? Es gibt tonnenweise Gründe, selbstherrliche, machtgeile Typen nicht zu mögen, aber diese schäbige und reichlich durchsichtige Lüge, mit der er den Treuergebenen fallen lässt, um ein weiteres Mal seine Haut zu retten, lässt ihn in urtrübem Licht erscheinen. «Kein Gentleman», wie der gewiefte Medienbeobachter Kurt W. Zimmermann festhält.

Aber vielleicht sehe ich das zu eng. Lügen war schon immer Mode, aber zurzeit scheint es in wie noch nie, vor allem in den fettesten Macht- und Geldkreisen. Denkt an Merkel, Biden (Papa & Son), Putin, Xi, Chamenei und tausend andere – da wird wohl auch ein kleiner helvetischer Vogt ein bisschen lügen dürfen?

Klima-Hype, Corona-Hype, Rassismus-Hype, Wokeismus, Genderhysterie – alles traumhafte Konstrukte zum Lügen, dass sich die Balken biegen. Und jeder sagt natürlich, die andern lögen, denn er, ER habe die Fakten auf seiner Seite und die andern hätten nur ‚Fuck-ten‘, Gefaketes, Erstunkenes und Erlogenes. Alles, was von MEINER Sichtweise abweicht, zeugt minimal von falscher Gesinnung, ist unmoralisch, Verschwörungstheorie, Hass-und-Hetze -im-Netze und daneben. Und wenn es dann doch mal gelingt, ein Lüglein dingfest zu machen, dann heisst man Hase und wusste von nichts, oder man hat höchstens ‘un peu corriger la fortune’, a bisserl geschwindelt oder „Das konnte man ja damals noch gar nicht wissen!“ oder „Wir glaubten wirklich, es sei nur Beziehungspflege, das böse CO2, meinten, das Virus sei wirklich gefährlich, die Impfung wirklich wirksam…» oder – die lieben Woken – «wir könnten mit den Denkmälern auch jeglichen Rassismus tilgen…“

Wenn lügen zum Berufsbild gehört

Alle lügen, viele sogar immer dann, wenn sie den Mund öffnen, andere sogar schon vorher, mit Mimik, Gestik und tausend anderen Signalen. Lügen gehört in einigen Branchen sogar genuin zum Berufsbild, zu den unabdingbaren Kompetenzen. Oder können Sie sich einen Anwalt, einen Politiker, einen Werber, einen Marketingstrategen, einen Politprognostiker, einen Statistik-Deuter vorstellen, der nicht Meister der Lüge wäre? Und es kommen unerwartete Branchen oder ‚Berufe‘ dazu: die aktuell besonders von jakobinischem Furor getriebenen Studenten, die mit ihrem Gesinnungsterror Lügen zum Dogma machen, aber auch ideologisierte Dozenten und Agenda-Wissenschaftler, die genau das sagen und schreiben, was der Auftraggeber hören will, was ihre Karriere befördert, was sie in die Medien bringt. Und wenn wir bei den Medien sind: hier finden wir die Weltmeister im Lügen. Alles, was minimal kurz-, lieber langfristig die Auflage, die Klicks, die Einschaltquoten, die Anzahl der Aufrufe erhöht, dient der Aufgabe eines Mediums, die nie, auch nicht vor tausend Jahren, darin bestand, irgendwelche ausgetrocknet und hungrig nach Wichtigem gierende Kehlen mit echter, wahrer, bedeutender, hilfreicher Information zu stopfen (zumal es davon nie viel gab und auch heute nicht gibt), sondern seit ewigen Zeiten darin bestand, die Aufmerksamkeit der trägen, auch ohne all das Gewäsch wunderbar zurechtkommenden Massen zu ergattern und ihnen so lange derart spektakulären Bullshit zu servieren, bis wenigstens ein Teil von ihnen wie Junkys abhängig wurde von dem Stoff. Wie bei Alkohol, Nikotin, Drogen, Sex, von was auch immer man abhängig sein kann: es muss immer mehr davon sein, härter, stärker, die Wirkung verpufft, die Reizschwelle verschiebt sich nach oben, der an harten Stoff, bei den Medien: an die Sensationen Gewöhnte stumpft ab, wird immun. Nach drei Tagen ‘Doppelmord in Blutwil‘ zieht es einfach nicht mehr. Wer wollte es ihnen verargen, den armen Quotenjägern, dass sie lügen, was das Zeug hält, denn Quoten, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Anerkennung – das ist der Stoff, der Menschen befriedigt, der ihnen Spass und sie reich und mächtig macht. Wenn Lügen verboten würde, wäre das wohl die grösste ökonomische und gesellschaftliche Katastrophe, denn auch im Mikrokosmos der Zweierbeziehung ist die Lüge das Schmiermittel Nummer eins. Und es ist keineswegs so, dass Lügner unzuverlässige Menschen wären. Im Gegenteil: es gibt Leute, die lügen immer und in jeder Lebenslage derart zuverlässig, dass man mit hoher Sicherheit davon ausgehen kann, dass das Gegenteil des Behaupteten stimmt – oder irgendetwas Drittes. Diese hohe Wahrscheinlichkeit, angelogen zu werden, macht es Müttern, Kunden, Ehepartnern, Lehrern, Therapeuten, aber auch Ermittlern und Richtern leichter. Die Vertreter der Subspezies der ‘Immer-Lügner’ haben es allerdings schwer, wenn sie vielleicht in einem seltenen Ausnahmefall einmal wirklich das sagen möchten, was sie für wahr halten. Beteuerungen helfen da nicht, die liefern sie ja schon ständig beim Lügen. Am ehesten kommen sie zum Ziel, wenn sie das Gegenteil behaupten von dem, was sie möchten, dass der Kommunikationsbeteiligte für wahr halten soll.

Die Werber, die Diplomaten, auch die Lockereren unter den Anwälten, stehen ja zumindest en privé dazu, dass alles minimal gefärbt, maximal gelogen ist, was sie rauslassen. Also geht man mit entsprechendem ‘Entfärbungsfilter’ an ihre Aussagen. Der Umgang mit diesem Entfärbungsfilter sollte ein Schulfach sein. Aber wenn es das wäre, kämen die Kids natürlich ihren Pädagogen und Eltern viel zu schnell auf deren Lügenschliche. Dieser Filter ist unabdingbar bei Figuren, die über derart wenig echtes Format und Rückgrat verfügen, dass sie auch beim kleinsten Alltags-Schwindel nie zugeben würden, dass sie lügen. Aktuell hierzulande verkörpert diesen Typus m.E. wunderschön unser aller Krankheitsminister und unser aller in transparente Opfersülze eingegossenes Jolidulchen. Wenn man locker davon ausgeht, dass alles, was solchen Spielern aus dem Munde oder der Feder quillt, mit grösster Wahrscheinlichkeit gelogen ist, braucht man sich auch nicht so lächerlichen Gefühlen wie Empörung oder Entrüstung hinzugeben, sondern kann mit einem gewissen Schmunzeln zuschauen, wie sie sich in immer phantastischere Lügengewebe verstricken.

Nun, das sind alles erstmal ziemlich grossspurige Behauptungen zu einem Begriff, den wir nicht einmal zu definieren versucht haben. Das möchte ich nachholen.

„Ich lüge nie!“

Wer sagt, er habe noch nie gelogen, tut es in ebendiesem Augenblick. Es beginnt, wenn man als Kind mit grossen Kulleraugen behauptet, man habe keine Schoggi geklaut, wohl wissend, dass dem nicht so ist, was die wissende Mama aber am verschmitzten Lachen erkennt, auch wenn alle Spuren im Gesicht bereits sauber entfernt worden sind:

Kekfe? – Welfe Kekfe?

Dann geht es weiter mit der Aufschneiderei auf dem Pausenplatz. Kinder lernen schnell, mit den eigenen Lügen und denen anderer Kinder umzugehen, sind aber erstaunt, wenn sie entdecken, dass auch die Erwachsenen lügen, dass sich die Balken derart biegen, dass immer wieder mal ein Ehe-Haus zusammenbricht. Das macht sie misstrauisch – und das ist gut so. Denn was so aus den Mündern und Schreibgeräten der Menschen quillt, ist zu gut 90% Lüge – auch diese Behauptung kann sicher als Lüge entlarvt werden: wahrscheinlich sind es 95%!

Es lohnt sich also, die Lügerei etwas genauer anzuschauen: Wer lügt wann, wie und warum? Wer ist sich dessen bewusst, dass er lügt – und wer plappert einfach die Lügen anderer nach? Wie kann man sich und der eigenen Lügerei auf die Schliche kommen – und mit dem entdeckten Werkzeug dann vielleicht auch der Lügerei der andern? Wo sind die Ränder dessen, was wir noch unter den Begriff ‚Lüge‘ subsumieren können? Ist suggestive Wort- und Bildwahl mit der Absicht, beim Rezipienten eine falsche Vorstellung zu erzeugen, also das, was Politiker, Anwälte, Medien und viele andere dauernd, gewisse sogar fast ausschliesslich tun, auch Lüge?

Wenn ich hier eine Definition offeriere, dann keineswegs mit der Vorstellung, sie sei absolut richtig und für alle gültig, sondern nur um klarzumachen, was ich in diesem Text unter dem Begriff ‚Lüge‘ verstehe:

„Eine Lüge ist der absichtlich unternommene Versuch, durch kommunikative Signale bei den Rezipienten dieser Signale einen Eindruck, eine Vorstellung, ein Bild zu erzeugen, von dem der diesen Versuch Unternehmende weiss, dass sie nicht dem entspricht, was er selbst als ‚wahr‘ zu erkennen glaubt.“

Die Definition mag auf den ersten Blick etwas kompliziert erscheinen, aber ich wollte sie so formulieren, dass nicht nur verbalsprachliche Lügen erfasst sind, sondern auch körpersprachliche und überhaupt jede Form von Signalen wie das Hissen einer weissen Flagge, obwohl man angreifen will, oder das Fahren mit einer mit Waffen und Soldaten vollgestopften Ambulanz im Kriegsgebiet. Wer Tiere hält, weiss, wie scheinheilig uns ein Hund anschauen kann, der gerade etwas vom Tisch geklaut hat, wie er uns mit dem harmlosen Blick ‚is was?‘ anzulügen versucht, denn er weiss haargenau, dass er etwas Verbotenes getan hat, tut aber so, als wäre er es nicht gewesen, gewissen Bundesräten nicht unähnlich.

Die Definition grenzt die Lüge aber auch klar ab gegen das naive, vielleicht dumme, aber nicht mit betrügerischer Absicht vorgenommene Erzeugen von Vorstellungen beim Rezipienten. Es muss sich um einen ‚absichtlich unternommenen Versuch‘ handeln, eine selbst als falsch qualifizierte Vorstellung zu erzeugen. Wer sich in keiner Weise bewusst ist, dass er Quatsch erzählt, ist vielleicht ein Trottel, aber kein Lügner. Wer zum Beispiel – wie ich – aus vollstem Herzen glaubt, alle Hunde dieser Welt seien liebzuhabende Wesen, und dies auch laut verkündet, um bei den Rezipienten Zustimmung zu erzielen, mag ein Naivling sein, den man belächeln darf, aber er ist kein Lügner, weil seine Vorstellung ja dem entspricht, was er für ‚wahr‘ hält.

Mit der Formulierung ‚was er selbst als ‚wahr‘ zu erkennen glaubt‘ grenzt sich meine Definition auch unmissverständlich ab von denen, die glauben, es gebe eine absolute Wahrheit und jeder, der etwas anderes als diese absolute Wahrheit erzähle, sei ein Lügner. Die Existenz absoluter Wahrheit wurde und wird vor allem von den Superprofis unter den Lügnern, den religiös, politisch, ideologisch motivierten Fanatikern jedweder Couleur immer wieder behauptet, aber in der nüchternen Welt der Wissenschaft seit Tausenden von Jahren täglich, stündlich falsifiziert. Keine einzige, von einem menschlichen Bewusstsein gemachte Aussage, kein einziges auch von anderen Entitäten ausgesandtes Signal hat sich bislang als absolut wahr erwiesen. Die Aussagen und Signale unterscheiden sich vielleicht in der Plausibilität, aber auch die ist zeit- und kulturabhängig und damit relativ. Wenn man nach absoluten Wahrheiten sucht, kommt rasch der Vorschlag: ‚Alles Leben ist sterblich!‘ – Aber auch diese Aussage wird von vielen angezweifelt, man denke nur an die Auferstehungsvorstellung in den drei monotheistischen und die Reinkarnationsvorstellung in vielen asiatischen, an die Präsenz der Verstorbenen in Geistergestalt in afrikanischen Religionen. Aber auch der Streit um Nahtod, Hirntod, Herztod zeigt, dass nicht nur ‚Tod‘, sondern auch ‚Leben‘ und damit auch die ‚Sterblichkeit‘ relative Begriffe sind.

Es reicht also völlig, etwas selbst aus tiefster Überzeugung für wahr zu halten und dann das Gegenteil zu behaupten, um ein vollwertiger Lügner zu sein. Das kann durchaus zu skurrilen Situationen führen: Hundefan Nicole fragt Mama, ob es noch Eier im Kühlschrank habe. Papa hört die Frage seiner Tochter und behauptet im Brustton der Überzeugung, es habe keine Eier mehr im Kühlschrank, obwohl er noch vor wenigen Minuten reingeschaut und gesehen hat, dass noch zwei Eier schön in ihrem Fach liegen. Aber Papa will vermeiden, dass seine tierliebende Tochter Nicole diese beiden Eier den beiden Hunden übers Fressen kippt. Der Papa hat also gelogen. Aber er hat auch gelogen, wenn sich beim Öffnen des Kühlschranks zeigt, dass tatsächlich keine Eier mehr drin sind, weil Mama sie schnell ‚gerettet‘ hat für die Omeletten, die sie zubereiten will. Die Aussage Papas ‚es hat keine Eier mehr im Kühlschrank‘ stimmt zwar, aber sie entspricht nicht dem, was er als wahr zu erkennen glaubte, als er selbst in den Kühlschrank schaute. Wenn wir keine absolute Wahrheit haben, an der wir die Lügen messen können, müssen wir als Kriterium das Bewusstsein des Lügenden hernehmen.

Wahr oder richtig?

Viele verwerfen aus purer Verzweiflung diese These von der Relativität und Subjektivität der Wahrheit und verweisen auf die gnadenlose, klar überindividuelle Gültigkeit von Regeln im Spiel und im Recht: innerhalb des Spielfelds und innerhalb eines Rechtsraums gelten die Regeln und Gesetze für alle. Da ist kein Spielraum für individuelle (Un-)Gültigkeit. Um eine Begriffsverwirrung zu vermeiden, benutze ich für diese Art von supraindividueller Regelgültigkeit den Begriff ‚richtig‘, bzw. ‚Richtigkeit‘. Richtigkeit gibt es durchaus, aber auch sie ist relativ wie die Wahrheit, in ihrem Gültigkeitsbereich beschränkt.

‚Eile mit Weile‘

Beim ‚Eile mit Weile‘-Brettspiel muss man eine 5 würfeln, um mit seinen Spielfiguren das ‚Haus‘ verlassen zu dürfen. Auf speziell eingefärbten Stufen, die wir Schweizer ‚Bänkli‘, also kleine Ausruhesitzbank nennen, kann man von überholenden gegnerischen Figuren nicht ‚gefressen‘ und zurück ins ‚Haus‘ spediert werden. Wer nun am Morgen nach dem Spiel zur Schule oder zur Arbeit eilen sollte und zuerst verzweifelt eine 5 zu würfeln versucht, weil er ja sonst das Haus nicht verlassen darf, hat das mit der beschränkten Gültigkeit der Spielregeln genauso nicht verstanden wie der, der meint, nachts um 2 auf einer Sitzbank im Drogenviertel einer Grossstadt sicher zu sein, nicht ‚gefressen‘ werden zu können, oder der, der mitten in der Nacht mit 200km/ durch Süddeutschland braust und nach dem Landeswechsel in Konstanz/Kreuzlingen auf der helvetischen Autobahn im gleichen Tempo weiterfährt. Was in Deutschland ok und durchaus ‚richtig‘ ist, gilt in der biederen Schweiz nicht nur als ‚falsch‘, sondern als gigantisches Grossverbrechen, das am nächsten Tag die Boulevardmedien füllt und an den Stammtischen landesweit für selbstgerechte Entrüstung sorgt – auch und gerade, wenn überhaupt nichts passiert ist. Es reicht, dass der Fahrer die Beschränktheit der ‚Richtigkeit‘ auf einen bestimmten Gültigkeitsbereich missachtet hat.

Warum lügen wir?

Den Hauptgrund haben wir in der Einleitung abgehandelt, zumindest für die ‚Profilügner‘, und er ist reichlich banal: Spass, Geld und Macht. Oder Macht, Geld und Spass. Denn beim Austüfteln einer besonders tollen Lüge hat ein Profilügner bestimmt seinen Spass. Und auch wenn die Lüge eines Anwalts, eines Politikers, eines Medienschaffenden aufgedeckt wird, heisst das keineswegs, dass dies mit einer Einbusse an Macht und Geld verbunden ist. Vor allem bei Medien ist sogar oft das Gegenteil der Fall: Wenn sich der gestern gemeldete Tod des Papstes als falsch erweist und der Oberhirte noch munter seinen Stab schwingt, dann aber einen Tag später sich hinlegt und stirbt, so schlachtet das Medium die Lüge als Prognose, als „Wir wussten es, bevor es geschah!“ aus und schlägt daraus Profit: „Bei uns lest ihr heute, was morgen passiert!“ und die Auflage schiesst durch die Decke (wer bezahlt für diesen Traum-Slogan?).

Der ‚He-schaut-hier-bin-ich-Trieb‘

Aber für all die Gelegenheitslügner, Alltagslügner, Kleinlügner, Amateurlügner: was motiviert sie, verführt sie dazu? – Ich meine, es sei die kleine Schwester der Macht, die Anerkennung. Wer in eine gelangweilte Runde platzt mit einem ‚Primeur‘, einer Sensation wie ‚Opa hängt im Estrich!‘, ist sich der ungeteilten Aufmerksamkeit sicher, wird beachtet, steht endlich einmal im Zentrum des Interesses und bleibt es, auch wenn sich herausstellt, dass Opa im Keller hängt, ja sogar wenn er nicht an einem Strick hängt, sondern ganz neumodisch ‚abhängt‘ im Keller mit ein paar Saufkumpanen, Wäsche aufhängt, weil Oma Geburtstag hat oder an seiner Markensammlung hängt, die ihm ein Enkel abluchsen will, oder, das wäre dann der absolute Knaller, nicht sich, sondern die Oma im Keller aufgehängt hat. Also Lüge hin oder her, unser Lügner hat die Aufmerksamkeit, um die er stets buhlt.

Ich wage die These, dass der von der Bedeutung von Sex besessene Sigmund Freud nicht recht hatte mit seiner Reduktion allen menschlichen Wollens und Tuns auf die Libido, und dass der ‚He-schaut-hier-bin-ich-Trieb‘, das Aufmerksamkeit und Anerkennung heischende Bedürfnis der Menschen, aber auch vieler Tiere und sogar Pflanzen bedeutend stärker und vor allem permanent wirkender ist. So gesehen ist die Libido nur eine Unterkategorie dieses alles erdrückenden Bedürfnisses, wahrgenommen und beachtet zu werden und dem jede Form von Aufmerksamkeit recht ist. Libido ist der Spezialfall, der nur auf eine bestimmte Art der Aufmerksamkeit aus ist: beachtet mich als tollen Zuchtbullen oder Zuchtstute: ‚Lasst euch von mir schwängern!‘ oder ‚Schwängert mich!‘ Das mag das reichlich simple Räderwerk Darwins in Schwung halten, wird aber der Psychologie und Soziologie des Menschen in keiner Weise gerecht.

Vor allem in einer Zeit, wo dank der doch so segensreichen Medizin bald alle 120 werden und die Mehrheit der überalterten Bevölkerung aus impotenten Greisen und längst nicht mehr gebärfähigen Omas besteht, zeigt sich immer deutlicher, wie kurz die Periode ist, in der die Libido sich so furchtbar aufspielt: über den Daumen zwischen 15 und 50, also läppische 35 der 120 Jahre. Das Aufmerksamkeitsbedürfnis zieht sich aber durch von der Geburt bis zum Exitus. Kaum ist die Nabelschnur durchtrennt, geht es los mit dem Gebrüll um Aufmerksamkeit. Und es endet nie. Nicht einmal Demenz stoppt es vollends.

So gesehen ist es doch eigentlich nicht mehr verwunderlich, wenn das Aufmerksamkeitsbedürfnis auch Vater oder Mutter aller Lügen ist. Der Drang, grösser, bedeutender, wichtiger, erfolgreicher, intelligenter, vermögender, einfach irgendwie mehr zu sein, als man ist – und dies im Bewusstsein, dass die Selbstdarstellung ein Fake ist, erklärt fast alle Lügen, auch und gerade die aus Angst vor Strafe. Denn Gestraftwerden ist ehrenrührig, macht uns zu weniger, als wir sein möchten, muss also vermieden werden. Wenn das mit einer Lüge gelingt, umso besser. Dank dem brillanten Buch der Journalistin Michèle Binswanger über den skurrilen Skandal rund um die Landammannfeier in Zug von 2014 ist eine dabei beteiligte Dame wieder im Angebot, die geradezu lehrbuchhaft dieses unstillbare Aufmerksamkeitsbedürfnis verkörpert.

Ausnahmen?

Es gibt natürlich auf den ersten Blick ein paar Ausnahmen von diesem alles überlagernden ‚He-schaut-hier-bin-ich-Trieb‘. Entitäten, die alles daran setzen, möglichst wenig oder gar keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: sich an die Beute, an den Feind anschleichende Tiere oder Menschen, Under-cover-Agenten oder sogenannte Schläfer, die unerkannt im Feindesland operieren, allzu Berühmte, die sich mit Sonnenbrillen und sonstigem Zeug tarnen, um nicht erkannt zu werden. Aber der Schein trügt: In Wirklichkeit vergrössert der vorübergehende Verzicht nur die Aufmerksamkeit, die dem Jäger, Krieger, Agenten nach erfolgreichem Abschluss des Vorhabens entgegenbrandet. Und der sich tarnende Star probiert in der Regel nur aus, von wie vielen er trotz der Maskerade erkannt wird.

Doch bei der Motivation zum Lügen gibt es echte Ausnahmen: Lügen zum Schutz des eigenen Lebens und des Lebens anderer. Das klassische Beispiel ist das Belügen der GESTAPO, die wissen will, ob wir Juden versteckt halten. Nicht zu lügen, würde sowohl für die versteckten Juden wie für uns den Tod bedeuten. Da wäre es etwas weit hergeholt, zu behaupten, wir lögen nur um später als Helden gefeiert zu werden. Aber es gibt durchaus aktuellere und alltäglichere Beispiele für Lügen, die nicht auf dem Drang nach Aufmerksamkeit beruhen, sondern auf dem Bedürfnis nach Freiheit, nach Nichteinmischung von Menschen oder Institutionen in unsere Privatangelegenheiten. Kontrollsüchtige Eltern, Lehrer, Pfaffen, oder ganz aktuell Polizisten, Behörden, Bundesräte – alle werden mit grossem Vergnügen und ohne schlechtes Gewissen angelogen, weil sie nach Ansicht vieler unsere Freiheit in unverhältnismässiger Weise einzuschränken versuchen. Nicht nur wer lügt, sollte sich also fragen, warum er das tut, sondern genauso sollte sich fragen, wer angelogen wird, warum ihm das passiert. Im simpleren Fall hat der Angelogene dem Lügner zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, im weniger harmlosen Fall hat er dessen Freiheit derart eingeschränkt, dass ihm nur die Wahl blieb, zu kuschen oder zu lügen. Und im Lande Tells und Winkelrieds scheint mir klar zu sein, dass kuschen vor dem Gesslerhut keine Wahl ist.

Vorschläge zum Umgang mit der Lügerei

Prüfe deine Motivation. Wenn du einfach nur das Rad schlagen willst, lerne doch irgendetwas, verschaff dir die Kompetenz in irgendeinem Bereich, die dir dann auch die begehrte Aufmerksamkeit verschafft. Das ist nicht nur erfolgversprechender, weil die Lügen ja eh früher oder später aufgedeckt werden, es ist auch nachhaltiger für dein Selbstbild, denn du weisst ja immer, wenn du aus purem Aufmerksamkeitsbedürfnis lügst, und findest dich dabei bestimmt nur mässig toll.

Wenn du aber lügst, um dein Leben oder das anderer zu retten, tu es so brillant wie möglich. Und lerne mit Waffen umgehen, damit du notfalls anstatt lügen schiessen kannst. Und wenn du lügst, um all die Kontrollfreaks und Freiheitseinschränker auszutricksen von den Eltern bis zu den Bundesräten, tu es geschickt und mit Vergnügen. Und wenn du kannst, mach den Machtmissbrauchern klar, dass sie es in der Hand haben, nicht mehr angelogen zu werden, indem sie aufhören, dich mit ihren Ängsten und ihrem Kontrollwahn zu verfolgen. Bei Eltern geht das leichter als bei Bundesräten, aber man kann’s auch bei denen versuchen. Ich tat es und habe unter anderen unserem selbstgefälligen, machtbesessenen Krankheitsminister den Stinkfinger in allen satirischen Varianten gezeigt, allerdings – zugegeben – bislang ohne Erfolg. Wenn er weiter mit Notrecht operieren und unsere Freiheit einschränken will, bleibt zurzeit nur, ihn und seine Schergen anzulügen. Aber Diktatoren, die einmal Blut gerochen haben, reagieren mit immer drastischeren polizeilichen Massnahmen, wenn sie ausgetrickst werden. Und allfällige Meisterlügner im Bundesrat? Irgendwann könnte man sie dann vielleicht doch in die Aare schubsen, dem Chefkoch hinterher? Sie können ja bestimmt schwimmen. Und wenn nicht, wird die Welt hoffentlich irgendwann über den Verlust hinwegkommen.

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