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Der aktuelle Zeitgeist ist munter daran, nicht nur die Freude am Austragen von Meinungsverschiedenheiten, sondern das Debattieren gleich ganz abzuschaffen. Hauptgrund ist das Primat der Emotionen und der emotional unterfütterten Gesinnung und Haltung über das trockene, rationale Debattieren mit Argumenten. Ein früher heiss erkämpftes Rechtsgut, die Meinungsäusserungsfreiheit, schwindet rasant, aber nicht nur, weil sie von einem zunehmend totalitär agierenden Staat beschnitten wird, sondern weil sie von einer Mehrheit von Trägern der vermeintlich einzig richtigen Gesinnung nicht mehr begehrt, nicht mehr gebraucht wird.

Cancel Culture’,‘Wokeness’, ‘Identity’ und ‘Genderspeak’ befreien uns von der Mühsal des Denkens

Ich gehe einen Schritt weiter und stelle die These auf, dass kaum mehr hochkarätige Debatten stattfinden, weil die Kompetenz des eigenständigen Denkens aus der Mode gekommen ist; weil Denken quer zum Zeitgeist kollektivistischer Einheitsmoral liegt. Um diese These zu stützen, muss ich den Prozess des Denkens definieren, zumindest für diesen Text:

DENKEN IST DAS ABWÄGEN VON ARGUMENTEN

Meist verwenden wir diesen Prozess zweckorientiert als Grundlage für eine Entscheidungsfindung. Es kann sich aber auch um ‘Grundlagenforschung’ handeln, um grundsätzlichen Erkenntnisgewinn ohne aktuelle Entscheidungsnotwendigkeit. Denken kann sogar zum Spiel, zum Sport werden mit dem einzigen Zweck, den Geist wach und beweglich zu halten. Am häufigsten denken wir ganz allein für uns, wägen Pro und Kontra ab, analysieren, hinterfragen, vergleichen die Plausibilität und Überzeugungskraft von ganzen Paletten von Argumenten. Wenn wir anstehen mit unserem Denken, tragen wir den Denkprozess nach aussen, laden andere ein, unsere Thesen und die sie stützenden Argumente zu prüfen, allenfalls Korrekturvorschläge bei unseren Thesen und Fragestellungen anzubringen, weitere Pro- und Kontra-Argumente einzubringen oder unsere bereits vorgebrachten Argumente anders zu gewichten. All dies – vor allem die Solo-Denkerei allein – muss keineswegs auf verbalsprachlich formulierte rationale Argumente beschränkt bleiben. Gerade in handwerklichen, sportlichen und künstlerischen Bereichen finden Denkprozesse, Abwägungsprozesse oft intuitiv statt und in starker Verbindung zu den physischen Möglichkeiten, der Erfahrung und Routine des Denkenden und dem konkreten Umfeld.

Die begnadete Pianistin und Wolfsretterin Hélène Grimaud

Der Pianist, der ein neues Stück erarbeitet und Fingersätze notiert, tut dies routiniert und intuitiv, passend zu seinen Händen und seinen Gewohnheiten. Wenn man ihn dazu fragt, reagiert er meist irritiert und muss überlegen, bevor er die gewählten Fingersätze rational verbalsprachlich begründen kann. Desgleichen beim Denkprozess des Malers, der hinter der Wahl einer Farbe steckt oder demjenigen eines Bildhauers, der ein Holzbearbeitungsinstrument auswählt. Unabdingbar ist eine hohe Ausdifferenzierung dieser Denk-Kompetenz für Wissenschaftler, Philosophen, Anwälte, Offiziere, Strategen in der Wirtschaft, wenn sie Erfolg haben wollen in ihrem Fach. Aber auch in jedem Handwerksberuf ist Denkenkönnen am Schluss ein matchentscheidender Erfolgsfaktor.

Sokrates auf dem Marktplatz – auch er wurde todwärts gecancelt und ‚Verführung der Jugend‘, aber nicht etwa weil er ‘bi’ war, sondern wegen ‚falscher Gesinnung‘also nix Neues

Wenn die Denkerei mitsamt dem Abwägen von Argumenten ein so grundlegender und so verbreiteter und für viele Tätigkeiten unabdingbarer Vorgang ist, wer kann denn dagegen sein und diese Prozesse verhindern oder ganz abschaffen wollen? Anders gefragt: was sind die Argumente des ‘Zeitgeistes’, der offenbar genau darauf abzuzielen scheint?

Hier hilft die klassische Frage ‘Cui bono?’ Wer profitiert davon? Wem nützt es, wenn möglichst viele Menschen möglichst wenig denken, möglichst selten Argumente abwägen, analysieren, ihre Plausibilität hinterfragen?

These:

ALLE, DIE MACHT ÜBER ANDERE AUSÜBEN WOLLEN

Da kann man provokativ fragen: Wer will das nicht? Wahrscheinlich sind wir schneller bei einer einigermassen verlässlichen Zahl, wenn wir die Menschen zählen, die keine Macht über andere ausüben wollen. Es beginnt beim Kleinkind, das die noch Kleineren kujoniert und zu beherrschen versucht, die Jungs, die Macht über Tiere oder andere Jungs austesten, um sich zu spüren, sich zu bestätigen, ihren Selbstwert zu erhöhen. Mädchen, die schon ganz früh ihre Waffen ausprobieren: die Attraktivität, das Wimpernklimpern, das Opferspielen, das Zugeknöpftspielen, das Schmachten, das Sich-Entziehen etc. Wahrscheinlich gehört dieses Austesten möglicher Macht über andere sogar zum fast unvermeidbaren Entwicklungsprozess der etwas ‘unfertigen’ Spezies Homo sapiens?

Macht macht Spass. Machtmensch Berset.

Der Fokus in diesem Text liegt aber auf dem beachtlichen Segment der Menschheit, bei dem auch im vermeintlichen Erwachsenenstatus  die Macht über andere zentrales Lebensziel bleibt. Hier glänzen vor allem die Kasten der Politiker, der Ideologen, der religiösen Dogmatiker und – damit wären wir endlich wieder beim Zeitgeist – die sich moralisch überlegen Wähnenden. Natürlich wähnen sich auch Politiker, Ideologen und religiöse Dogmatiker moralisch überlegen, aber bei ihnen ist es meist mehr oder weniger leicht durchschaubar geheuchelt, vorgespielt. Zu transparent ist meist die reine Machtgier: Einfluss, Geld, Eigentum, Verfügungsmacht, am liebsten auch die Macht über Leben und Tod. Diese Gier muss verbrämt werden hinter moralischem Geschwurbel, aber unter Alkohol oder leichter Folter fällt das moralische Deckmäntelchen bei diesen Schichten meist rasch. Zudem ist diese Sorte Mensch keineswegs neu. Wahrscheinlich gab es sie bereits zu Neandertalerzeiten.

Wirklich interessant und m.E. relativ neu und deshalb ‘zeitgeistig’ ist das wachsende Segment derjenigen, die tatsächlich und zutiefst überzeugt glauben, sie seien moralisch überlegen, sie seien die ‘Gutmenschen’. Oft durchaus sonnige Gemüter, lieb und etwas bildungsfern, die derart inniglich an die alleinige Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben, dass ein Hinterfragen ihrer Positionen,  ein Abwägen von Argumenten mit sich selbst, ein Debattieren mit anderen nicht mehr nötig, überflüssig ist, ja für viele von ihnen ein eigentliches Sakrileg darstellt. Es reicht ihnen, das Richtige richtig zu fühlen, um zu wissen, zu erkennen, dass man das Gute tut, auf der richtigen Seite steht.

Irgendwie auch rührend, zumindest diejenigen Vertreter der ‚letzten Generation‘, die wirklich an den Weltuntergang glauben

Jedem Machtmenschen aus der Trias Politik, Ideologie, Religion hüpft das Herz im Leibe, so vorhanden. Denn was gibt es Einfacheres zu führen, zu ‘nudgen’, in die gewünschte Richtung zu schubsen als diese sonnigen, selbsternannten Gutmenschen wahrer Gesinnung? Wenn es gelingt, bei diesen Führungsprozessen das Kollektive ganz grundsätzlich und möglichst konsequent über das Individuelle zu stellen, dann öffnen sich die Tore weit für das, was wir gerade erleben. Das Hochspielen von ‘Weltproblemen’, die nur kollektiv, am besten weltweit einheitlich gelöst werden können, Probleme, die Solidarität zwingend erfordern, freiwilligen oder notfalls auch etwas unfreiwilligen Verzicht auf ehemalige individuelle Freiheitsrechte nötig machen. Unter anderem das anstrengende, von der Aufklärung mühsam erkämpfte Grundrecht auf selbständiges Denken – Kant lässt grüssen: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.» – Aber wenn die Leitung des andern doch gefühlt so gut, so richtig, so weltrettend ist? Wollen wir uns dann nicht hingebungsvoll dieser Leitung anvertrauen?

Aufklärer Immanuel Kant

Die Genialität der Machtgierigen besteht darin, dass sie das eigenständige Denken nicht wie damals die Kirche unter Bann und Höllenstrafe stellen, auch nicht als ‘staatsgefährdend’ mit Gefängnis, KZ, Tod bestrafen wie es jeder totalitäre Staat schon immer tat und weiterhin tut, sondern es als ‘nicht nötig’, als ‘jetzt gerade nicht zielführend’ bezeichnen so nach dem Motto: ‘Es gibt jetzt Wichtigeres. Wir müssen zusammenstehen und die Welt retten. Vor Pandemien, vor dem Klimawandel, vor den Russen, vor der Atomkraft, vor dem Untergang, vor was auch immer… Wenn ihr dann später, wenn das alles vorbei und die Welt gerettet ist, wieder solche ‘Denkspiele’ veranstalten wollt, wunderbar. Einfach später. Wir werden euch dann eine geschützte Werkstatt zur Verfügung stellen. Aber jetzt lasst das bitte mal, legt die Spielsachen beiseite – und helft mit, die Welt zu retten!’

Wenn Hitler wieder da wäre – es gibt ja bereits ein durchaus witziges Buch dazu – er würde japsen vor Freude über diesen Geniestreich. Stalin auch. Jeder echte Diktator müsste oder muss den Hut ziehen vor dieser energiesparenden und effizienten Strategie: Die missliebigen Menschen, die, die man weghaben will, egal aus welchen Gründen, nicht suchen, verfolgen, erschiessen, vergasen – sondern von der Gemeinschaft der moralisch Guten unterstützt von den Staatsmedien bemitleiden lassen: Die armen Schwurbler, die Verschwörungstheoretiker, die Lügner, die hoffnungslosen Dummies – ganz fein, lieb und sorgsam aus ihren Funktionen nehmen und in die Arme der Therapiebranche schubsen. Desgleichen die privaten Marktteilnehmer, die jedem wahren Machthaber ein Dorn im Auge sein müssen: nicht enteignen, nicht verbieten, nicht totschlagen – einfach aushungern durch Lockdowns, die leiderleider unvermeidlich sind, wenn man das grosse Ziel der Weltrettung nicht aus den Augen verlieren will. Der Staat übernimmt die Branchen all der – ach nein wie traurig – Hops-Gegangenen. Das Kollektiv kriegt die nötige Kontrolle über die Wirtschaft – immerhin geht es um die Rettung der Welt. Dass man dazu auch die ehemals privaten Medien unter die Fittiche des Kollektivs nehmen muss, diese böse und gefährliche vierte Gewalt, die früher so gnadenlos die Machthaber kritisierte und kontrollierte, versteht sich von selbst. Und es ging ja so leicht: die Kleinen aushungern, die Grossen kaufen.

Rodins Denker – meines Wissens noch nicht gecanceled! Wahrscheinlich weil die Cäänzler nicht gecheckt haben, was der macht? Bildungsferne kann auch mal Gutes bewirken 🙂

Die Prognosen für die Verweildauer des ‘Zeitgeistes’ sind günstig. Es könnte ja durchaus noch etwas dauern mit der Weltrettung. Und bis dann haben wir das Denken vielleicht nachhaltig verlernt? Wir könnten im stillen Kämmerlein noch ein wenig weiterüben, in geheimen Zirkeln richtige Debatten führen – und nach der Weltrettung treffen wir uns dann wieder ‘draussen’, ok?  

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One Comment

  1. Avatar marpa

    Ute

    Die Diktatoren und Diktatorinnen arbeiten mit den altbekannten und immer wieder erfolgreichen Mitteln.
    Es wird ein Aussenfeind dazu verwendet eine Pseudosolidarität zu erzeugen im Inneren.
    Dieser Pseudosolidarität ,die nur blinder dummer Gehorsam ist,wird das Individuum untergeordnet, natürlich auch dessen eigenes Denken.
    Aussenfeinde sind das Klima, ein Virus, und bald noch andere Pseudofeinde, angebliche Rassisten, man kann die Liste im Augenblick endlos fortsetzen.
    Eigenes Denken könnte zur Gefahr für die Diktatoren werden.
    Diese haben mit perfiden Mitteln der Falsch-und Desinformation und mit der wirtschaftlichen Vernichtung von selbst denkenden Bürgern, ihre Macht und ihren wirtschaftlichen Erfolg
    zementiert.
    Rufmord ist ein probates Mittel unliebsame Individuen mundtot zu machen.
    Egal in welchem Ausmaß, diese Methoden wirken immer.
    Ob in einem kleinen Kollektiv,oder ,wie wir es gerade erleben, in ganzen Staaten.
    Ich habe mich immer gegen den Begriff der Elite gewehrt.
    Die Definition finde ich schwierig.
    Nach Deinem Beitrag möchte ich ihn doch definieren.
    Die selbst und unabhängig Denkenden.
    Leider ist es damit nicht getan.
    Gedanken und Ideen müssen zur praktischen Anwendung kommen.Auch durch die Denker .
    Sonst sind sie für mich nutzlos, überheblich und auch feige.
    Denn sie bedeuten nur, das Fußvolk soll ausführen.
    Damit beißt sich die Katze, oder auch die Schlange, in den Schwanz.
    Die Elite wird zur neuen Diktatur.
    Nun ist nur die Ansage anders.
    Wir sind die Elite, wir denken Euch vor.Ihr seid zu dumm, also braucht ihr nicht zu denken.
    Ein ewiger Kreislauf.
    Als Individuum, das nicht nur überleben will, sondern auch etwas ändern,muss man sich gut überlegen,wie man handelt.
    Handeln denn darauf kommt es an. Auch im ganz kleinen Rahmen kann man etwas bewirken.
    Ich habe immer den Löwenzahn vor Augen.Er kann sogar Asphaltdecken sprengen.
    Das ist dann der Anfang um diese Decken zu vernichten.
    Nicht nur im Straßenbau.
    Es reicht manchmal zu schweigen und zu handeln, oder einem Befehl mit einem schlichten Nein zu begegnen.

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