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Urk war schon als kleiner Junge sehr eifrig und meldete seinen Eltern jeden Verstoss seiner Geschwister gegen jedwede Regel. Der Kindergarten machte ihn glücklich. Nun gab es viel mehr Kinder, die gegen viel mehr Regeln verstiessen – und er konnte viel häufiger Verstösse melden, was ihn stolz machte und seine Wangen glühen liess. Die anderen Kinder mochten ihn nicht, und einmal verprügelten ihn ein paar der Jungs richtig heftig. Aber auch dies meldete er sofort der Kindergärtnerin, einer fröhlichen, unkomplizierten jungen Frau mit türkischen Wurzeln namens Sania. Sie war entsetzt, suchte das Gespräch mit den Kindern, die aber auf stur und stumm machten. Niemand verpfiff die drei Jungs, die sich Urk vorgeknöpft hatten. Aber dieser hatte Sania längst die Namen der drei Prügelknaben genannt. Es blieb Sania nichts anderes übrig, als die drei ernsthaft zu ermahnen und sie aufzufordern, sich bei Urk zu entschuldigen. Doch das verweigerten die drei standhaft. Kaum zuhause, meldete Urk den Vorfall seinen Eltern. Mit grosser Genugtuung hörte er, wie sein Vater die Kindergärtnerin zusammenstauchte am Telefon.

Bald erkannte er mit Freude, wie er immer wichtiger wurde. Man kam nicht mehr an ihm vorbei. Nicht nur die anderen Kinder fürchteten ihn, sondern auch die Kindergärtnerin. Es war für ihn die einzige Möglichkeit, Beachtung zu finden. Bei allen Spielen, Basteleien, bei allem, was sie im ‘Waldchinzgi’ machten am Freitag, war er das Schlusslicht. Er konnte weder singen noch Geschichten erzählen. Auch bei den Lego-Baukästen war er langsam und ungeschickt. Aber Beobachten und Melden – da war er fast unschlagbar. Ihm entging nichts – und er meldete auch Kleinigkeiten. Wenn die Kindergärtnerin dann mal abwinkte und sagte, dies sei nun wirklich nicht der Rede wert, meldete er es seinem Vater, der als Hauswart in einem grossen Mehrfamilienhaus mit vielen kinderreichen Familien Verständnis hatte für Ruhe und Ordnung und die Einhaltung der Hausregeln. Dann kriegte die Kindergärtnerin eins aufs Dach von ihm und das nächste Mal wagte sie es nicht mehr, abzuwinken, wenn er einen winzigen Regelverstoss meldete. Die Stimmung in der Klasse wurde immer schlechter. Die Kindergärtnerin merkte, wie ihr das Vertrauen der Kinder entglitt, wie sie immer mehr schimpfte und Verbote aussprach und den Unwillen der Kinder auf sich zog. Dazu die dauernden Anrufe von Urks Vater. Eines Abends schüttete sie ihrem Freund Aslan ihr Herz aus und der – pragmatisch, wie er nun mal war – empfahl ihr, die Stelle zu wechseln. «Und dann hat meine Nachfolgerin diesen Petzer – und ich vielleicht einen anderen Denunzianten am neuen Ort?» Aslan lachte, so kannte er seine fröhliche, sanftmütige Sania gar nicht, und versprach, sie im Kindergarten zu besuchen und sich diesen Urk mal zur Brust zu nehmen.

Gesagt, getan. Am nächsten Freitag ging Aslan mit in den Wald, half beim Feuer machen und wartete nur darauf, dass Urk irgendeinen Klassenkameraden anschwärzte. Alle waren noch beim Holzsuchen, da kam er angelaufen und meldete, Noah habe einfach in den Wald gepinkelt und Emma hätte ihm dabei zugeschaut. Aslan lächelte, packte Urk am Arm und zog ihn weg von den andern in den Wald. Als er losschrie, hielt er ihm den Mund zu, aber die paar Kameraden, die die Szene mitkriegten, grinsten nur schadenfreudig. Als sie ausser Sicht- und Hörweite waren, setzte er sich mit Urk auf den Waldboden und redete ruhig, aber eindringlich auf ihn ein. «Hör mal Urk, ich halte deine Petzerei für ein ganz schlechtes Konzept, um auf dich aufmerksam zu machen. Wenn es dir nicht liegt, ein Freund zu sein, vielleicht sogar einmal anderen zu helfen, dann versuch es mit Leistung. Wenn du irgendetwas richtig gut kannst, werden dich die anderen anerkennen und versuchen, auch so gut wie du zu werden.» Urk sah Aslan von unten misstrauisch an und sagte: «Ich mache dasselbe wie mein Vater. Ich sorge für Ordnung und die Einhaltung der Regeln. Die Tante Sania sieht ja all die Dinge nicht. Und jetzt werde ich meinem Vater melden, dass so ein Türke mich verschleppt und mir weh getan hat. Er mag keine Türken. Vielleicht musst du dann raus aus unserem Land und kannst Tante Sania gleich mitnehmen.» – Aslan war einen Augenblick sprachlos. Der Junge war fünf – und schon ein waschechter rassistischer Blockwart, an dem jeder Diktator seine helle Freude gehabt hätte. Er dachte immer, dieser Menschenschlag sei mit Hitlerdeutschland und der DDR untergegangen – offenbar hatte er sich getäuscht. Saftig. War dieser Junge überhaupt noch resozialisierbar? Er zweifelte. Vielleicht wenn die Medien das Thema aufnähmen?

Sania und Aslan

20 Jahre später

Aslan und Sania waren längst wieder in der Türkei. Und Urk war derselbe geblieben. Die Medien hatten das Thema schon aufgenommen, aber nicht so, wie Aslan sich das gedacht hatte. Sie prangerten nur ihn als übergriffigen Migranten an. Urk hingegen ging es gut. Corona – nicht das Bier – mit all den fast täglich neuen, oft völlig willkürlichen und widersinnigen, auch widersprüchlichen Regeln eröffnete ihm geradezu traumhafte Möglichkeiten. Er hatte mit Mühe und Not seine Lehrabschlussprüfung bestanden, war aber auch nach der Lehre keine Leuchte in seinem Beruf. Nebenher hatte er reiten gelernt in der Hoffnung, so etwas Aufmerksamkeit zu erregen beim anderen Geschlecht. Aber er war derart unbegabt, dass das einzige Gefühl ausser Spott und Hohn, das er mit seiner Reiterei auslöste, kopfschüttelndes Mitleid war. Also bemühte er sich um ein Ämtli im Reitverein – und er erhielt einen Traumjob: Er musste dafür sorgen, dass die äusserst vielfältigen und trickreichen Hallenregeln eingehalten wurden. Da er in der Nähe wohnte, war es ein Leichtes, jeden Benutzer zu überwachen, vom – meist falschen – Parkieren über das Einschreiben im Hallenbuch VOR dem Reiten, das Schliessen der Türen, das sofortige Zusammennehmen der Bollen, das Reinschaufeln des Hufschlags, das Leeren der Schubkarre, das Ausräumen der Hufe, das peinlich genaue Kehren des Vorplatzes, das Löschen des nur massvoll zu benutzenden Lichts, das Nichtbenützen des Mistcontainers für die Bollen aus den Hängern, das geräuscharme Wegfahren… ein geradezu herrliches Betätigungsfeld, das in der wunderschönen Corona-Zeit noch gekrönt wurde durch die Kontrolle des Maskentragens, des Impfzertifikats, der Handdesinfektion, der beschränkten Anzahl zugelassener Reiter, der Einhaltung der Abstände am Boden und zu Pferd. Er wuchs über sich selbst hinaus. Keiner und keine entging ihm. Obwohl er eigentlich wenig sportlich war – wenn einer einfach losfahren wollte und er durchs Fernglas gesehen hatte, dass noch ein Strohhalm auf dem Vorplatz lag, konnte er durchaus mal einen Sprint einlegen und den Fehlbaren gerade noch stoppen und zurückbeordern – und wenn einer es wagte, die Halle ohne Impfpass zu betreten, wurde das umgehend dem Vorstand gemeldet und mit schweren Sanktionen geahndet. Wie ihn dies glücklich machte! Manchmal sah er sich Fotos und Filme von der DDR an. Diese Ordnung! Diese Regeln! Diese Sauberkeit! Er spürte, wie gern er beim Staatssicherheitsdienst oder als Volkspolizist gearbeitet hätte. Nicht nur immer melden, auch mal schiessen auf Fehlbare, Republikflüchtlinge und anderes Geschmeiss.

Doch er gab die Hoffnung nicht auf. Seine Generation war schon an vielen Stellen am Drücker und fast täglich gab es neue Regeln, neue Gebote und Verbote, deren Einhaltung es zu überwachen galt. Ihm war es letztlich egal, was die Regeln regelten und manchmal musste sogar er kurz die Stirn runzeln, wenn er hörte, welche Wörter nicht mehr benutzt werden durften. Und dass man im Verein die ‘Mitgliederinnen’ begrüssen musste. Und was es mit diesen Sternchen auf sich hatte. Aber rasch lernte er, was er an im Hallenbuch entdeckten verbotenen Wörtern weitermelden konnte. Er träumte von einer Überwachungskamera, die ihm alles frei Haus geliefert hätte, sodass er jeden Abend hätte überprüfen können, wer in seiner Abwesenheit welche Regeln übertreten hatte. Datenschutz, was für ein Schwachsinn! Das Wichtigste war doch die Einhaltung der Regeln. Und alles, was bei der Überprüfung dieser Einhaltung half, musste doch Priorität haben, oder etwa nicht?

Dann tat sich ihm ein herrliches neues Betätigungsfeld auf. Er wusste zwar zuerst nicht, was das genau bedeutete mit der ‘kulturellen Aneignung’ und der ‘Identitätsanmassung’ und so – er war ja in der Schule nicht gerade das hellste Kerzlein auf dem Kuchen gewesen – aber als man ihm erklärte, dass er Ausschau halten sollte nach Kindern, die Indianer spielten oder Eskimos oder gar N.ege.rlis in Baströckli, nach solchen, die Mohrenköpfe immer noch als solche benannten, wenn sie sie bei der Bäckerei Mohn, die zum Glück nicht ‘Mohr’ hiess, erstanden hatten – da war sein Eifer kaum mehr zu bremsen. Er durfte auch nach ‘Weissen’ fahnden – naja die waren ja meist so leicht gerötet, aber gemeint waren einfach die, zu denen er auch gehörte – aber er suchte Weisse, die die falschen Frisuren hatten, so diese verfilzten, gedrehten Zapfendinger, eh scheusslich, er trug sein Haar seit Kindsbeinen schön gescheitelt, wie mit der Axt gezogen – also das musste – durfte! – man auch melden. So ging er erstmals in seinem Leben in ein Konzert, wo man auch solche Musik spielte, die diese Leute mit den Filzfrisuren anzog. Was ihm etwas komisch vorkam, war, dass er bei der Meldung sagen musste, es sei ihm ‘unwohl’ beim Anblick dieser Typen, dabei war ja das Gegenteil der Fall: nichts löste bei ihm grösseres Wohlbefinden aus, als wenn er einen Verstoss melden konnte!

Er träumte davon, dieses Beobachten, Erkennen und Melden zu seinem Beruf machen zu können und wusste, in einem richtig durchregulierten sozialistischen Staat wäre das möglich gewesen. In der DDR – überhaupt in jeder richtig sauberen Diktatur – konnte man auch Gespräche belauschen und jegliche Kritik an der Regierung melden. Er hatte das natürlich während dieser tollen Corona-Zeit auch gemacht und hatte sogar vom BLICK einiges an Lob abgekriegt, wenn er Leute melden konnte, die etwas gegen die absolut notwendigen Massnahmen sagte: Corona-Leugner! Massnahmenskeptiker! Fake-News-Verbreiter! Er konnte ja nicht Englisch, aber man sagte ihm, das sei ganz einfach: es seien die, die etwas anderes sagten als die Regierung. Und wenn die Regierung mal etwas anderes sagte als am Vortag, dann gelte immer das Aktuellste, was sie gesagt hatte. Gut, der Lockdown, das war dann auch für ihn etwas unangenehm, weil er ja auch nicht mehr ganz frei auf seine Streifzüge gehen konnte. Aber was er nur schon von seinem Fenster aus alles sah, hielt ihn durchaus bei Laune. Nachbarn zu sechst auf dem Balkon! – gut eins war ein Baby, aber Gesetz ist Gesetz! Eine Frau, die ohne Maske auf einer Parkbank sass und ein Buch las. Er erkannte sie zwar nicht, verzeigte sie aber unter genauster Angabe der Lage der Bank einfach als unbekannte Täterin. Es ärgerte ihn masslos, dass sie sich vor Erscheinen der Polizei davonmachte. Wobei selbige gar nicht erschien. Was für eine Bananenrepublik! Wie gern hätte er Abhilfe geschafft, all die Regelbrecher verhaftet und Geständnisse aus ihnen heraus… naja lassen wir das, das waren ja nur Träume. Zumindest beklebte er die Parkbank mit deutlichen Hinweisen. Aus eigenen Mitteln:

Zum Glück eröffnete sich in seinem ursprünglichen Tätigkeitsbereich, der Gastronomie, eine ganze Fülle neuer, sich immer mehr verfestigender Regeln. Kinder durften nur noch gesunde und sozialverträgliche Ernährung in den Kindergarten mitbringen. Gut, da musste man zuerst wissen, was als gesund galt: kein Fleisch, vor allem kein Schweinefleisch, weil das den Muslimen gegenüber nicht sozialverträglich war – das Wort war ihm neu, aber er verinnerlichte es sofort. Keine Schokolade, überhaupt nichts Gezuckertes, also ausser Fruchtzucker, wie er in Äpfeln vorkam. Er liebte es, die Znünitäschli der Kinder zu kontrollieren und erinnerte sich an seine eigene Kindergartenzeit und an die gemeinen Jungs, die ihn damals verprügelt hatten. Die Rache an den Dreien war immer noch auf seiner Agenda. Doch die Esserei bot erst mal ein schönes zusätzliches Betätigungsfeld. Es wurden ja auch die Betriebs- und Schulhauskantinen immer mehr auf rein vegetarisch umgestellt und in den Gefängnissen konnten die Gefangenen wie in einem guten Restaurant zwischen vegan, vegetarisch, glutenfrei, laktosefrei, frei von gesättigten Fettsäuren und vielem mehr auswählen. Einzig Fleisch gab es immer weniger – das machte die Gefangenen nur aggressiv – und das waren die ja eh schon, sonst wären sie nicht dort, wo sie waren. Sie hatten ja Regeln gebrochen, deren Einhaltung er so hingebungsvoll überwachte. Diese Verwöhnerei im Gefängnis fand er masslos übertrieben. Er war ja im Innersten ein Verfechter der Todesstrafe für Regelbrecher.

Und jetzt kamen die Russen dazu als neues Jagdwild. Im Geheimen dankte er Putin für diese Steilvorlage. Er war einer der ersten, der auf die grandiose Idee kam, die Verfolgung der Russen weit über die Personen hinaus auf alles Russische zu erweitern. Das Halten und Ausstellen russischer Katzen musste natürlich verboten – und empfindlich geahndet werden, sollte es doch jemand wagen. Desgleichen Hunde, Pferde, überhaupt alle Tiere, die aus Russland kamen. Er hätte gern das saubere Entfernen, Auslöschen aller russischen Tiere gefordert. Und wie bei den Menschen hielt er sich ganz an das erfolgreiche System der Antisemiten: ein Wesen musste nicht Vollrusse sein, um verfolgt und ausgewiesen, sein Besitz beschlagnahmt und weitestgehend – abzüglich einer kleinen Provision an den, der das Wesen und vor allem seinen Besitz entdeckt hatte – an die Ukraine weitergeleitet zu werden. Es reichte ein Vorfahr, eine Urgrossmutter! Ein russischer Hengst in der vierten Generation führte zum Turnierausschluss und zum Landesverweis. Urk entwickelte in Bälde einen geradezu phänomenalen Riecher für alles Russische. Nur schon ein Zwiebelverschluss auf einer Parfümflasche, ein Kalenderbild mit einer russischen Kirche, eine Babouschka-Puppe – und er meldete!

Aber dann wurde – welch trauriges Ende – eines Tages weder ein Russe noch ein Gefangener erschossen, sondern unser aller Urk. Er konnte es sich nicht erklären. Also nachher sowieso nicht, aber auch vorher nicht. Musste man die, die ihr Leben der Einhaltung der Regeln widmeten, nicht ganz speziell ehren? Die es auf sich nahmen, halt auch mal etwas gefürchtet zu werden, um der höheren Sache willen? Und hatten nicht alle Grossen ihre Entourage, die sie verehrte? Er hatte gelesen – mit dem Finger den Zeilen nachfahrend und stumm die Lippen bewegend – von Ulbricht, Honecker, aber auch von den ganz Grossen, Pol Pot, Hitler, Stalin, Mao, Putin, Xi Jinping und vielen anderen. Sie wurden doch alle beschützt und lange Zeit auch angehimmelt und verehrt? Und ihn erschoss man einfach? Aber das war doch eine klare Regelverletzung! Die musste man melden! Wer tat das nun, wenn er es nicht mehr konnte?

Zum Glück hatte er rechtzeitig Nachwuchs gezeugt. Nicht, weil er Kinder oder die sie Gebärende geliebt hätte – Liebe wurde seines Erachtens eh überschätzt – sondern aus Pflichtgefühl, weil er seine Gene weitergeben wollte, Gene, die imprägniert waren von der Leidenschaft, zu beobachten, zu melden und für Bestrafung zu sorgen. Und dieses Wissen, dass er vier kleine angehende Blockwarte hinterliess, dass sie also nicht aussterben würden, zauberte ihm ein posthumes Lächeln in den Sarg.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie weiter bis ans Ende aller Tage…

Mieze-munze-maus, das Märchen ist jetzt aus!

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