Share this post on:

Einheit – Vielheit – Einheit

Als Got nach einer ausgedehnten Reise durchs All endlich wieder einmal Zeit für den blauen Planeten Mara fand, war er etwas überrascht, als er sah, wie wenig sich seine nackten Zweibeintrottelchen entwickelt hatten. Sie trottelten immer noch recht unbeholfen umher und schlugen sich gegenseitig die Rübe ein. Und dank der Hilfsinstrumente, die sie sich gebastelt hatten, mussten sie sich kaum mehr selbst bewegen, ja nicht einmal mehr beim Kämpfen brauchten sie ihre bescheidenen Kräfte. So waren die meisten fett und faul geworden. Der einzige Körperteil, der recht aktiv benutzt wurde, war der Daumen der rechten Hand, mit dem sie auf kleinen Gerätchen rumdrückten, worauf dann alles mögliche an sinnlosen Dingern zu surren, zu plappern oder zu bewegen begann. Wenn sie nicht gerade auf eine der unzähligen Scheiben starrten, auf denen andere Trottelchen vom Leben berichteten, das die meisten nicht lebten, flitzten und flogen sie in Blech- und Stahlkistchen aufeinander los und machten sich gegenseitig tot und möglichst viele Sachen der jeweils anderen kaputt.

Got seufzte ein wenig und schüttelte den Kopf. Manchmal verwünschte er heimlich seine eigene Idee mit dem immer schneller expandierenden Universum. Bei aller Allmacht – er konnte einfach nicht überall gleichzeitig sein und sich wirklich achtsam seinen Experimenten widmen. Wie sollte da je ein brauchbares Wesen entstehen, dem er auch ein wenig Verantwortung delegieren konnte, zum Beispiel für ein kleines Sonnensystemchen oder eine hübsch überblickbare Galaxie? Er beschloss, früher als geplant das mit der Expansion abzublasen und das ganze Spiel mal für eine gewisse Zeit rückwärts laufen zu lassen. Gut, er hatte ja auch noch die schwarzen Löcher, in denen er alles verschwinden lassen konnte, was sich als völlig gescheitert erwies. Bei den Zweibeintrottelchen war er sich aber noch nicht ganz sicher. Irgendwie hing er an diesen Dummerchen und wollte sich nicht eingestehen, dass diese Mischung von viel Hirn und wenig Herz, diese Kombination von fast null Intuition mit einer grossen Portion berechnenden Verstands – und dies alles bei einer Freiheit, wie er sie bislang kaum einem Wesen zugestanden hatte – schlicht und einfach ein Fehlschlag war.

Wenn er ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, dass er falsch gepokert hatte. Er hatte gedacht, die Zweibeintrottelchen würden die Aggressivität, die er in ihnen angelegt hatte, als Anpackigkeit, als Dynamik für den Ausbau der Kommunikation, der Vernetzung benutzen, und zwar gleichzeitig unter sich wie auch mit allen anderen Wesen und Dingen, die er auf Mara angesiedelt hatte. Ja, darüber hinaus: Er hatte sich vorgestellt, wie sie die interstellare Kommunikation entdeckten, den Draht zu anderen Wesen ähnlicher Bauart im Universum fänden. Aber es kam ganz anders. Die Zweibeinerchen legten zwar einen erstaunlichen Tatendrang an den Tag, wenn es darum ging, Hilfsmittel zu erfinden und zusammen zu basteln, die ihnen die Durchführung ihrer Vorhaben erleichterten. Aber diese Vorhaben waren eben nicht auf die Vernetzung von allen mit allem ausgerichtet, sondern ganz im Gegenteil auf die ‚Entnetzung‘, die Trennung, auf den Kampf aller gegen alle. Die Trottelchen betrachteten grundsätzlich alles – auch die Exemplare der gleichen Gattung – als Feind, den es zu bekämpfen, zu benutzen oder zu zerstören galt. Sie hieben auf Steine ein, leiteten Gewässer um, hieben Schneisen in bewaldete Berge, vergifteten die einen Pflanzen, während sie die anderen so abänderten, dass sie ihnen besser nützten, sie pferchten Tiere zusammen, um sie niederzumetzeln und aufzufressen, aber alles in einer hastigen Gier, ohne in Kontakt zu treten mit all den Wesen und Dingen. Die Dummerchen waren ständig getrieben von der Angst, andere könnten ihnen das wieder abjagen, was sie sich gerade ergattert und ergaunert hatten.

Soviel ungenutztes Denkvermögen – und so viel selbstzerstörerischer Fundamentalismus in ihrer Angst.

Auch hatte die doch recht grosszügige Ausstattung der Schaltzentrale, des Gehirns dieser nackten Äffchen, offenbar nicht ausgereicht, um sie die allersimpelsten Zusammenhänge erkennen zu lassen.

Er hatte sie doch absichtlich nackt gemacht, damit sie diesen Mangel wettmachen lernten, indem sie sich mit viel handwerklichem Geschick und geistiger Anstrengung und unter kluger Nutzung vorgefundener Materialien einen vergleichbaren Schutz gegen die Unbilden der Witterung schufen, wie ihn die anderen Wesen von Natur aus hatten. Er hatte sich gar nicht vorstellen können, dass sie in ihrer Überheblichkeit ihren Mangel flugs zu einer sie über alle anderen heraushebenden Besonderheit umdrehten und verächtlich auf die mit Fell, Federn, Panzern, dicker Haut ausgerüsteten Tiere herabsahen.

Nackt zu sein, so fanden die unbescheidenen Zweibeinerchen, war nicht Mangel oder etwa lächerlich, sondern das Markenzeichen der führenden Gattung. So viel dümmliche Eitelkeit hätte er ihnen nicht zugetraut. Genau so gingen sie mit allen anderen Bereichen um, in denen sie mit weniger Sinnen, weniger Gaben und Talenten ausgestattet waren als andere Wesen.

Ihnen fehlte die Nachtsichtigkeit der Eule, die gute Nase des Hundes, die Infrarotsichtigkeit der Biene, die Ultraschallortung der Fledermaus, die chemische Ortungsgabe der Haifische, die Infraschall-Kommunikation der Giraffen, die Orientierungsgabe der Zugvögel, sie konnten weder schnell laufen noch schwimmen und schon gar nicht fliegen – und sie kamen als hilflose Frühgeburten zur Welt und es dauerte Jahre, bis sie sich ohne mütterliche Betreuung durchschlagen konnten.

Anstatt nun staunend, ehrfürchtig, respektvoll und bescheiden die anderen Wesen zu befragen, sie um Rat zu bitten, wie sie die ihnen fehlenden Fähigkeiten vielleicht behelfsmässig erwerben könnten, wendeten sie sich in ihrer Verblendung von der Natur ab und erklärten alle Mängel zu Adelszeichen des höchsten Geschöpfes. Sie richteten alle Anstrengung auf die Knechtung und Zerstörung all derer, die irgendetwas besser konnten als sie. Sie nährten ihre Überlegenheit aus der Macht, über die sie in immer grösserem Masse verfügten: die Macht, die anderen wegzufegen und auszurotten. Auch hier, in ihrer Vergötterung der Macht über Leben und Tod, waren sie dümmer als alle anderen Wesen, die diese Macht gar nicht anstrebten, da sie um die zyklische Wiederkehr von allem, um das Spiel von Werden und Vergehen und auch um die freiwillige Rückkehr von allem in die Einheit wussten.

Jeder Stein im Universum kannte das grosse Spiel EVE, Einheit – Vielheit – Einheit, das Spiel von Schöpfung und Entschöpfung, die Gestaltung von Einzelwesen, die zwingend die Erfindung von Zeit und Raum erforderten, um überhaupt als Einzelwesen wahrnehmbar und aktionsfähig zu werden, die Bereitstellung einer ganzen Palette verschiedenartigster Verknüpfungen, Verbindungen, Bezüge zwischen den Einzelwesen, deren zentralste die Möglichkeit war, dass alle mit allem und jedem in Dialog treten konnten.

Das ganze Spiel war allen bekannt – nur die Zweibeintrottelchen schienen die Spielanlage vollkommen vergessen, verdrängt zu haben. Es fehlte ihnen offensichtlich an ganzheitlicher Erkenntnis. Anstatt bescheiden auch diesen Mangel so gut wie möglich mit dem viel langsameren und auch sonst in vieler Hinsicht beschränkten Hilfsmittel der rational-analytischen Erkenntnis wettzumachen und zu versuchen, sich die allen anderen Wesen offenstehende schnelle und verbindende Erkenntnisart anzueignen, drehten sie den Spiess wieder um und verachteten alle, die nicht über das gleiche Ersatzmittel verfügten wie sie. Sie glaubten tatsächlich, diese mühselige Arbeit des alles immer wieder Auftrennens in immer noch kleinere Teile, des Beschreibens der Teile und des Rätselns, wie sie denn nun wieder zusammenspielen sollten, sei höher, bedeutsamer, adliger als die blitzschnelle, intuitive Erkenntnis der anderen Wesen, die sie nicht verstanden und auch nicht nachvollziehen konnten. Gut, sie hatten eine erstaunliche Fertigkeit im Spalten, Trennen und Auseinanderhalten entwickelt. Und um sich orientieren zu können in dem riesigen Teilchensalat, hatten sie Myriaden von Schubladen und Etiketten erfunden. Aber auch hier passierte etwas Merkwürdiges: Obwohl täglich neue Schubladen und Etiketten erfunden wurden, glaubten sie, es handle sich dabei jedesmal um die einzig richtige Ordnung, die für alle gültige Etikettierung. Sie hatten dafür Ausdrücke wie ‚Objektivität‘, ‚gesichertes Wissen‘, ‚wissenschaftlich bewiesene‘ bzw. ‚historisch belegte Tatsachen‘ oder ‚absolute Wahrheit‘. So wurde alles Tun der Zweibeinerchen zum Konflikt, denn jeder beharrte darauf, dass seine Schubladisierung die einzig richtige, wahre und für alle gültige sei. So entwickelten sie auch unzählige Schubladen für das höchste Wesen, die sie auf verschiedenste Weise etikettierten, aber alle behaupteten, in ihrer Schublade sei das wahre, das einzig gültige höchste Wesen, das so gross und so hoch angesiedelt sei, dass man es nicht beschreiben könne, ja nicht beschreiben dürfe. Das taten sie dann aber doch und schlugen sich gegenseitig tot, wenn nur schon das Etikett auf der Höchst-Wesen-Schublade der einen durch die anderen in Frage gestellt wurde.

Hatte er ihnen denn wirklich rein gar nichts beigemischt von dieser ganzheitlichen, intuitiven Erkenntnis-Art, über die alle anderen Wesen auf dem Experimentierfeld verfügten? Oder war sie bei den Zweibeinerchen im Laufe seiner Abwesenheit einfach fast völlig verkümmert? Sie hatten nicht einmal begriffen, dass jeder von einem anderen Standpunkt aus guckt und damit auch etwas anderes sieht. Wie konnte man so doof sein, ereiferte er sich. Sie schlugen mit ihren Hilfsmitteln, die teils auf erstaunlich hohem Entwicklungsstand waren, aufeinander ein, weil jeder für sich in Anspruch nahm, über die einzig richtige Sicht und damit die einzig gültige Bewertung dessen zu verfügen, was er gerade entdeckt hatte. Genau wie bei den Schubladen benutzen sie dafür wieder diese merkwürdige Bezeichnung, die es in vergleichbarer Weise im ganzen Universum nicht gab – zumindest soweit er es gerade bereist hatte: absolute Wahrheit. Was für ein hirnrissiges Konzept. Über so etwas verfügte ja nicht einmal er – wozu auch? Es hätte ja das ganze Abenteuer zunichte gemacht.

Er erwartete ja nicht, dass sie begriffen, warum er das ganze Projekt ‚Universum‘ überhaupt gestartet hatte. Diese Hintergründe zu verstehen hätte den kleinen Zweibeinwürstchen wohl zu viel abverlangt und allein mit ihrem trennenden Verstand konnten sie es sich nicht zusammen reimen. Obwohl es in allen Kulturen der Zweibeinerchen Mythen und Legenden gab, die dieses ‚Zerstückelungsmotiv‘ in Bilder fassten, durfte man nicht erwarten, dass die grosse Mehrheit verstand, wie man sich als ALLES, als EINHEIT absichtlich zerstückeln konnte, sich auseinanderfallen liess, sich in die Vielheit begab, sich aufteilte in Myriaden von Erscheinungsformen, um sich selbst überhaupt erleben, erfahren zu können, um das Abenteuer von Leben in Zeit und Raum überhaupt auf die Bühne zu bringen. Sie wären wohl entsetzt gewesen, wenn sie erkannt hätten, dass das, was sie Raum nannten, erst durch diesen Entscheid entstand, sich in die Vielheit der Erscheinungen zerfallen zu lassen. Die neu entstandenen Dinge mussten doch irgendwo sein, brauchten Platz, was das ALLES nicht brauchte. Und mit dem Augenblick des Auseinanderfallens war auch die Zeit erfunden. Es musste doch etwas Fliessendes sein, denn einfach nur ruhendes Nebeneinander der vielen Phänomene, einfach so stumpfes Dasein hätte ja kein Leben in die Bude gebracht. Es brauchte so etwas in eine Richtung Laufendes, Pulsierendes, damit sich die neu entstandenen Wesen und Dinge auch gegenseitig betrachten und miteinander in Kontakt treten konnten.

Und genau hier hatte er einen Fehler gemacht im Konzept der Zweibeintrottelchen. Er hätte es wissen müssen und eigentlich – im Tiefsten – hatte er das Risiko bewusst auf sich genommen, dass es schief gehen könnte. Er fand es ein klitzeklein wenig langweilig, als sich die Dinge einfach nur so begrüssten im Raum, aneinander vorbeizogen oder still auf den Himmelskörpern mit rotierten. Er wollte etwas mehr ‚Action‘, wollte ausprobieren, was sich ergab, wenn Dinge aufeinandertrafen, sich vermischten, etwas Neues generierten. Natürlich war die erste Auslegeordnung nach dem Auseinanderfallen schon faszinierend reich – aber irgendwann hat man es dann auch gesehen. Und so begann er zu experimentieren, zuerst mit kleinsten Teilchen, die er aufeinandertreffen liess und gespannt zukuckte, was für Kräfte dabei frei wurden. Es war schlicht gewaltig! Dann immer mehr auch mit komplexeren Dingen und Wesen. Von den einen gab es weniger, dafür frassen sie andere, von denen es mehr gab. Es war ja alles nur Spiel! Es konnte ja nichts verloren gehen. Letztlich gehörte ja immer alles zusammen und wusste um diese Zusammengehörigkeit.

Auf unzähligen Himmelskörpern hatte er verschiedenste Formen von Leben entstehen lassen, Wesen mit unterschiedlichsten Graden von Autonomie ausgestattet und beobachtete mit Interesse und Vergnügen, wie sie ihre Gaben, ihre Talente und ihre Freiheit nutzten. Er hatte sich selbst – als Rahmenbedingung des ganzen Experiments – grösste Zurückhaltung auferlegt, was nachträgliches Eingreifen betraf. Nur gerade wenn ein Himmelskörper völlig aus der Balance zu geraten oder alle Lebensformen auf einem Planeten zugrunde zu gehen drohten, wollte er die Fortsetzung des Experiments durch einen möglichst massvollen Eingriff sicherstellen.

Nun war er sich beim blauen Planeten Mara mit seinen Zweibeintrottelchen nicht ganz sicher, ob ein Eingreifen nötig sei, ob er vielleicht ein paar höher entwickelte Wesen von einem anderen Planeten in Zweibeingestalt unter die Trottelchen schmuggeln sollte, die ihnen halfen, die offenbar völlig verschüttete Intuition, das ganzheitliche Grundwissen wieder freizuschaufeln, über das sonst universumsweit jedes Molekül verfügte. Ihm war schleierhaft, wie die ja schliesslich aus denselben Grundbausteinen wie alles andere im Universum zusammengebastelten Zweibeintrottelchen so verdummen konnten, dass sie es schafften, als Gesamtorganismus das Wissen all ihrer Einzelteile zu unterdrücken und zu verdrängen. Wie konnten sie sonst auf die Schnapsidee mit der ‚absoluten Wahrheit‘ kommen und deswegen ihre ganze Energie auf die Frage verwenden, wie man sich am effizientesten gegenseitig umbringt?

Auch bei der ganzen Töterei zeigte sich ja ihre geradezu lächerliche Dummheit. Sie hatten keinen Zugang mehr zu den allen anderen bekannten Spielregeln von EVE. Sie meinten tatsächlich, sie seien völlig abgetrennt von allem, was sie wahrnähmen, und könnten irgend etwas zerstören oder irgend jemanden töten, ohne dabei auch einen Teil von sich selbst zu verletzen, einen Teil des grossen Ganzen, zu dem sie gehörten, mit zu zerstören. Und – fast noch einfältiger – sie schienen wirklich zu glauben, mit der Zerstörung einer äusseren Form, mit der Vertreibung des Lebens aus einem Körper sei der Inhalt, das, was die Form umhüllte, das Wesen, der Geist, das Lebendige auch zerstört. Daran hatte er doch gedacht, als er auf die Idee der Jahreszeiten und damit auf die Zyklen der Pflanzenwelt gekommen war. Fast jedes dieser Zweibeintrottelchen hatte doch Gelegenheit, unzählige Male in seinem Leben dieses Werden und Vergehen und wieder Werden und wieder Vergehen zu erleben? Konnte er das noch deutlicher machen, als indem er die Blumen am selben Ort, wo sie blühten und verdorrten, im Frühling jedesmal wieder neu erblühen liess: eine ’neue‘ Blume – und doch dieselbe?

Er schüttelte den Kopf und brummte: „Da hab ich mich wohl etwas vertan“ und überlegte sich, wie er das Experiment mit den Zweibeintrottelchen doch noch zum Besseren wenden könnte. Als erstes beschloss er, mit dem blauen Planeten Mara selbst zu sprechen, die diese merkwürdige Brut ja schliesslich beheimatete.

Mara freute sich über die Zuwendung Gotes und lachte, als er sie auf die Zweibeintrottelchen ansprach. „Ja, sie machen wirklich entsetzlich viel Dummes und schaden sich selbst, wo sie können. Aber schau mal, was sie daneben auch machen!“ leuchtete sie und führte ihn zuerst in einen kleinen Keller in einer kleinen Stadt in einem kleinen Land, wo eine Jam-Session abging mit ein paar Jazzmusikern unterschiedlicher Hautfarbe.

Die beiden zoomten sich ganz nahe heran an die glücklichen Gesichter der Spielenden und der rund herum Sitzenden und Tanzenden, ja sogar in ihre Herzen lugten sie und sahen, dass sie offen, weit waren, dass zumindest in diesem Augenblick diese paar Zweibeinerchen tief in ihrem Innern wussten, dass sie nicht isolierte Einzelwesen waren, dass jedenfalls die hier Anwesenden alle miteinander verknüpft, vernetzt, untrennbar verbunden waren. Ja, darüber hinaus: Denn der schwarze Rapper, die hellhäutige Sängerin, der halbdunkle Drummer – sie alle trugen ihre Kultur, ihre Heimat und damit auch alle Bewohner ihres Herkunftslandes mit ihrer Musik unter die Anwesenden. Das Weltumspannende der Musik, die universumweit verständliche Art des Austauschs lag greifbar in der Luft.

Got lächelte und nickte, bevor er sich von Mara in eine andere Ecke ihrer kugelrunden Oberfläche ziehen liess.

Es war ein Stall, in dem ein kleines Mädchen mit wuscheligem Haar bei einem Pferd stand, das schwitzte und angstvoll zu seinem Bauch blickte. Das Mädchen sprach beruhigend auf das Pferd ein und hatte ihm seine beiden Hände auf den Bauch gelegt. Das Herz des Mädchens war weit offen und es bat darum, Kanal sein zu dürfen für die heilende Kraft, von der es intuitiv wusste, dass sie überall im Kosmos vorhanden war. Vor den Augen der beiden schmunzelnden Zuschauer fuhr ein heller Energiestrahl durch den Scheitel des Mädchens in ihre Hände und breitete sich im Bauch des Pferdes aus, um dann durch die Hufe wieder in den Boden zu verschwinden. Mehrere Minuten lang währte dieses Bild, bis der angstvolle Blick aus den Augen des Pferdes wich und die Ausstrahlung der beiden ruhiger pulsierte. Es waren nicht mehr einfach ein Pferd und ein Mädchen, sondern ein vielfach verbundenes Ganzes. Die Bewusstseinsgrenzen der beiden Wesen waren durchlässig geworden.

Mara lächelte Got zu und zeigte ihm kurz ein Bild aus einem anderen Zeit-Raum: Dasselbe Mädchen sass auf demselben Pferd und die beiden preschten in wildem Galopp durch Feld und Wald, setzten über Baumstämme, Gräben, übersprangen Bachläufe, durchquerten Teiche, erklommen Hügel und sausten Abhänge hinunter – alles mit einer Leichtigkeit und Freude, die ansteckend wirkte. Plötzlich entrang sich ein Jauchzer der Kehle der jungen Frau, der von den nahen Felsen als Echo zurückgeworfen wurde und den ganzen Wald erfüllte.

Auch Mara und Got widerspiegelten diese Freude, und er liess sich entspannt von ihr an einen dritten Ort hinführte. In einem mit Kerzen beleuchteten runden Raum sassen sich inmitten farbiger Seidenkissen zwei Zweibeinerchen gegenüber, eine wunderschöne Frau mit nussbrauner Haut und langem schwarzem Haar, das sie im Nacken mit einer goldenen Spange zusammengefasst hatte. Sie war nackt und sass aufrecht im Lotos-Sitz da und schaute mit ihren grossen dunklen Augen ruhig zu ihrem Gegenüber, einem schlanken jungen Mann, der wie sie ruhig dasass und seine feingliedrigen Hände locker auf seine Knie gelegt hatte mit den Handflächen nach oben gerichtet. Die beiden neigten ihre Köpfe voreinander und murmelten leise Worte des Dankes, schlossen ihre Augen und baten um die Erweiterung ihres Bewusstseins für ihre Vereinigung. Darauf entspann sich vor Mara und Got ein Liebesspiel von einer Schönheit und Achtsamkeit, das sich der Beschreibung mit den unbeholfenen Mitteln der Sprache entzieht.

Denn ein Wort vermag weder einen Duft, noch einen Klang, noch eine Berührung und auch kein Bild zum Leben zu erwecken, wenn derjenige, der das Wort hört, es nicht mit einer Erfahrung oder zumindest einer intensiven Vision verbinden kann. Wer also mehr erfahren möchte über das Liebesschauspiel des schönen Paares, muss es vor dem inneren Auge mitzuerleben versuchen oder – noch hilfreicher – selbst das Wagnis eingehen, sich von seinem vordergründigen Ich mit seinen Absichten und Zielen einmal kurz zu verabschieden und sich einem so anderen, so viel grenzenloseren Spiel der Verschmelzung zweier Wesen hinzugeben. – Als die beiden in inniger Umarmung ruhig wurden und eine einzige regenbogenfarbige Aura die beiden ineinander verschlungenen Körper umschloss, verliessen Mara und Got den mit herrlichen Düften erfüllten Raum.

„Verstehst du nun, grosser Meister, dass ich den Zweibeinerchen noch eine Chance geben möchte? Die meisten sind zwar unsäglich dumm und manchmal fast unfassbar langsam in ihrer Entwicklung – aber wer wüsste besser als du, dass Zeit keine Rolle spielt und nichts, aber auch gar nichts verloren gehen kann? Und wenn sie es jeweils etwas zu bunt treiben, schüttle ich mich ein wenig, lasse die Winde sausen und die Wasser fluten, puste etwas Feuer aus meinen vielen Vulkanen – und dann werden meine Zweibeinerchen jeweils wieder für kurze Zeit etwas demütiger. Aber ich glaube nicht, dass ein Eingriff oder gar ein Abbruch des Experimentes nötig ist.“

Got lächelte über dieses flammende Plädoyer von Mara für ihre schwierigsten Kinder. „Wenn du, die du ja am meisten unter meinen nicht ganz ausgereiften Geschöpfen zu leiden hast, dich so einsetzest für sie, dann will ich dir deinen Willen lassen. Es ist ja gerade eines meiner grossen Ziele, dass ich Verantwortung weitergeben kann im Universum, dass immer mehr Wesen begreifen, dass sie ja alle Teil desselben grossen ALLES, derselben EINHEIT sind und damit auch Anteil an der Allmacht haben, die letztlich immer zurück führt ins Einssein mit allem, was ist. Meine eigene Rolle in diesem grossen Experiment ist viel weniger wichtig, als es scheint. Ich verstehe mich als Hebamme, die hilft, dass Kinder wie du, liebe Mara, zur Welt kommen. Kinder, die freudig ihre Freiheit nutzen und Verantwortung für ihr Tun und Lassen übernehmen – und die ebenso freudig bereit sind, wieder in die Einheit zurück zu kehren, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt sehen, wenn ihre Abenteuerlust gestillt ist, wenn die Sehnsucht sie nach Hause führt. Ich danke dir, liebe Mara, für das, was du bist und tust. Und du weisst: Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da.“

Sprach’s und entschwand in die Weiten des Alls. Mara aber lächelte noch lange vor sich hin und murmelte verschmitzt: „Jaja, ‚für dich da‘ – so alle paar tausend Jahre – aber was soll’s, Zeit spielt ja keine Rolle. Mal schauen, was meine Zweibeinerchen inzwischen schon wieder angestellt haben…“

 

Share this post on:

Leave a Comment