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Selbstverständlich. Zumindest in meiner Welt, in meinem Welterklärungsmodell. Und in meiner Welt ist er auch in deiner Welt, in der aller Entitäten, ist er das einende Element aller subjektiven Welten. – Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass es Welterklärungsmodelle weitab von Kirchen, Konfessionen und frommem Bekennertum gibt, die auch für nüchterne Denker nachvollziehbar, ja sogar plausibel sind. Sie müssen allerdings so nüchtern sein, dass Sie sich bereit erklären, ein paar liebgewonnene Glaubensannahmen wie die alleinseligmachende Heiligkeit der Rationalität zu hinterfragen. Und Sie müssen bereit sein, gedanklich auf ein Modell einzusteigen, das vom Axiom – der Glaubensannahme – ausgeht, dass es hinter der Vielheit von Entitäten, in der wir uns vorfinden und die ich als Modus der Subjekt-Objekt-Spaltung bezeichne, einen Seinsmodus gibt, wo diese Spaltung noch nicht erfolgt bzw. wieder überwunden ist. Aber dieses Bild ist noch schief, da es eine Zeitachse suggeriert, die es im Seinsmodus jenseits der Spaltung gerade nicht gibt.

Auch die Titelfrage mit dem ‚Gibt es…‘ ist noch ähnlich unpräzis wie die folgende: Gibt es Gedanken? – Da schreien zwar viele unisono „JA, selbstverständlich, ich denke ja gerade einen Gedanken!“

Immerhin verleitete dieser Gedanke, dass man von der subjektiv als Tatsache erlebten ‚Wirklichkeit‘ des Denkenkönnens auf die eigene Existenz schliessen könne, den französischen Zweifler Descartes zu dem so berühmt gewordenen Satz: ‚Cogito, ergo sum‘ , also etwa: ‚Ich denke – oder auch: ich zweifle – also bin ich.‘

Dass er nach dieser Entdeckung, die ihm im Traum kam, mit dem Zweifeln haltmachte und die Zweiflerei nicht mehr in Zweifel zog, daraufhin sogar zum Übervater des Rationalismus gemacht wurde, entbehrt nicht der Komik. Mit seinem legendären Sprüchlein begründete er die Religion der Rationalität und machte das zweifelnde analytische Denken zum Mass aller Dinge, zum Dogma der aufgeklärten Neuzeit. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er das wirklich so wollte. Denn der Erfolg scheint mir – gelinde gesagt – wenig berauschend. Aber dieses Etikett des Rationalisten haben ihm wohl seine späteren Interpreten angeklebt. Denn er hat ja seine im Traum gewonnene Erkenntnis weitergeträumt und kam durchaus zu ganz anderen Schlüssen als seine ‚Jünger‘: z.B. dass wir im Traum auch ‚Wirklichkeit‘ erfahren, die wir für höchst real halten – bis wir aufwachen. Er dachte dann allerdings diesen Gedanken nicht weiter und kam nicht auf den Schluss, den östliche Weisheit seit Jahrtausenden zieht: dass die Analogie zwischen Traum und Leben gar nicht so absurd ist – zumindest bislang von keinem ‚Rationalisten‘ falsifiziert werden konnte – dass es gälte, irgendwann aus dem Traum, den wir ‚Leben‘ nennen, zu erwachen, um dahinter, ‚meta physei‘ , hinter der physischen Welt, die ‚wahre Wirklichkeit‘ zu erkennen – oder vielleicht auch nur wieder die nächste Traum-Ebene, die wir dann ‚Jenseits‘ nennen?

Wir müssen uns also zuerst klar werden darüber, was wir meinen mit ‚es gibt‘, bevor wir uns damit befassen können, was der Begriff ‚Gott‘ denn für uns bedeutet.

Das verzweifelte Sätzchen „Es gibt…“

‚Es gibt…‘ könnte man etwas provokativ als den Urschrei der Angst bezeichnen. In dem Augenblick, wo sich eine Entität ihrer selbst als Abgetrennte von andern, von anderem, von ‚Welt‘ gewahr wird, entsteht die Angst vor diesem Abgetrenntsein, vor Isolation, vor der als Bedrohung empfundenen Macht der andern. Netterweise ist es so eingerichtet, dass wir Menschen als biologische Frühgeburten diese Abtrennung nicht als einmaligen plötzlichen Schnitt, sondern als mehr oder weniger langsamen Prozess auf verschiedenen Ebenen erleben. Die Zeugung ist der erste Ruck in diesem Abtrennungsprozess, die Geburt der zweite, grosse auf der physischen Ebene, Trotzalter, Pubertät, Adoleszenz führen immer weiter in die Wahrnehmung der Abtrennung, der Absonderung, aber auch der Autonomie, der Einzigartigkeit. Dieser Sturz aus dem Paradies der Einheit, der von christlicher Seite so oft bejammert wurde und wird, hat – wie alles in der polaren Welt – eine Schokoladenseite: Erst als Abgetrennte sind wir überhaupt erkenntnisfähig. Und wenn wir uns von dem moralinsauren Beigeschmack lösen, den die biblische Version der ‚Erkenntnis von Gut und Böse‘ bewirkt; wenn wir die folgenschwere Erfindung der Wertung von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ ausklammern und einfach von der Erkenntnis an sich sprechen, dann sehen wir die Tragweite, aber auch den Reiz, das Abenteuer, das in diesem Abtrennungsvorgang liegt, den ich von nun an Subjekt-Objekt-Spaltung nenne.

Einheit und Subjekt-Objekt-Spaltung

Der Begriff ‚Spaltung‘ bezeichnet eine Aktivität. Wenn eine Spaltung erfolgt, muss etwas Zu-Spaltendes, etwas Ungespaltenes, Ganzes vorhanden sein. Im Ausdruck ‚Subjekt-Objekt-Spaltung‘ suggeriere ich also, dass ein Zustand vor bzw. jenseits dieser Spaltung denkbar ist. Ich nenne diesen Zustand Einheit. Wenn Subjekt-Objekt-Spaltung per definitionem Voraussetzung der Erkenntnis ist, können wir schliessen, dass sich dieser postulierte Zustand der Einheit unserer Erkenntnis und damit auch der Beschreibbarkeit entzieht.

Subjekte und Objekte

Wieso diese Unterscheidung in Subjekte und Objekte? Wieso nicht einfach ‚Spaltung in verschiedene Entitäten‘? – Durch die Aufspaltung der Einheit entstehen nicht einfach gleiche Elemente, sondern Entitäten mit der Gabe der Wahrnehmung, ausgerüstet mit verschiedensten Werkzeugen, die ein Erfassen der erfolgten Abtrennung erst möglich machen. Ich benutze als Sammelbegriff für diese Wahrnehmungsfähigkeiten den Begriff ‚Bewusstsein‘. Dieses individuelle Bewusstsein jeder Entität nimmt sich selbst also als Abgetrenntes, Gesondertes, Besonderes wahr und gibt dem sich immer mehr konturierenden Ich einen Extra-Status, empfindet sich als denkendes, handelndes, mehr oder weniger autonomes Subjekt (sub-iectum, das ‚zugrunde Liegende‘ oder wörtlich das ‚darunter Geworfene‘). Den Rest der Welt, dem es nur ungern, zögerlich und sehr eingeschränkt überhaupt ein dem eigenen vergleichbares Bewusstsein zugesteht, betrachtet das selbsternannte Subjekt als Objekt (ob-iectum, das gegenüber Liegende oder wörtlich das entgegen Geworfene), als das Andere, das Fremde, das Abgetrennte, nicht Verbundene.

Die unterschwellig bei den meisten Entitäten vorhandene Höherbewertung des Subjekts, das als empfindungsfähig, bewusst gedacht wird, gegenüber dem oft etwas abwertend gebrauchten Objekt, das vorerst nur einmal ein Ding ist, dient uns gleich als Schuhlöffel für die Erkenntnis der Grundproblematik, die mit dem Urschrei „Es gibt…!“ entsteht. So abenteuerlich und faszinierend es ist, Gegenüberliegendes wahrzunehmen, etwas ausserhalb von uns Befindliches zu fokussieren und zu untersuchen, und so zwingend nötig dazu ein minimaler Abstand von diesem Wahrgenommenen ist, genau so zwingend ist auch – in situationsabhängiger Relation zum inneren und äusseren Abstand zum Objekt – das Anwachsen der Unsicherheit über dieses Aussenliegende, Fremde, Andere. Wer sagt uns denn, dass es dieses Gegenüberliegende überhaupt gibt? Und – falls es existiert – wie wissen wir, ob es eine Gefahr für uns darstellt? Und – falls es eine potenzielle Gefahr darstellt – wie können wir es beherrschen, wie können wir seine Veränderungen, sein Tun und Lassen, seine Gefährlichkeit vorausberechnen, vorhersagen und damit besser in den Griff kriegen? – Das sind die besorgten Fragen der Praktiker, die die Welt – ihre Welt – möglichst gut beherrschen wollen.

Doch auch die Theoretiker machen sich Sorgen: Woher beziehen wir die Gewissheit, dass WIR überhaupt sind, dass wir existieren, dass es uns gibt? Wer sagt uns denn, dass irgendein Verlass sei auf unsere Wahrnehmung? Wenn wir keine sichere Aussagen über das Aussen, die Objekte machen können, wieso sollten wir dann sichere Aussagen über uns selbst machen können? Auch das Zweifel-Axiom Descartes wurde und wird bezweifelt in seiner Stringenz.

Der beste Witz der Welt: der Welt-Witz

Eigentlich liegt darin der grösste Witz des Universums, das herrlichste Paradoxon des Modells WELT:

Ohne Abstand, als ununterschiedene Teilchen in der grossen Einheits-Suppe, nehmen wir gar nichts wahr mit unserer Gabe der Erkenntnis, da uns dazu ja eben der nötige Beobachtungsabstand fehlt, der erst ein Bewusstsein für Unterscheidbarkeit möglich macht.

Mit Abstand nehmen wir zwar etwas wahr, aber nichts Sicheres, nichts Verlässliches. Aus dieser Unsicherheit erwächst Angst, die Urangst, ob es uns als Subjekt und das Wahrgenommene als Objekte überhaupt gebe. Diese Angst verdichtet sich zu den verzweifelten Behauptungen: ‚Ich bin…‘ und ‚Es gibt…‘ oder etwas moderner in der Wittgensteinschen, aber deswegen nicht weniger verzweifelten Formulierung ‚Es ist der Fall…‘

Gegen Verzweiflung ist nichts einzuwenden, solange man sie sich eingesteht. Das tun aber die Wenigsten. Die meisten flüchten sich ins Gegenteil und erklären in ihrer Orientierungslosigkeit und Verzweiflung entweder willkürlich oder indem sie sich an vermeintliche Autoritäten klammern irgendwelche subjektiven Wahrnehmungsinterpretationen für ‚absolut wahr‘ – damit sie wenigstens irgendetwas Sicheres haben, an das sie sich halten können – und schon haben wir die ganze Bescherung mit dem ‚Ich und nur ich habe Recht‘, mit Absolutismus, Dogmatismus, Fundamentalismus, dem idealen Nährboden für Intoleranz, Mord und Krieg. Psychologisch ist der Prozess leicht nachvollziehbar: Im Tiefsten wissen oder ahnen zumindest fast alle, auf wie unsicherem Boden die willkürliche Adelung irgendeiner subjektiven Erkenntnis zur ‚absoluten Wahrheit‘ ist. Und gerade weil sie unsicher sind, verteidigen sie die wacklige Wahrheit mit einer im Tierreich bislang nicht entdeckten Wut und Grausamkeit. Wenn wir eine subjektive Erkenntnis ganz für uns als unhinterfragbar, als für uns ganz privat sogar als ‚absolut‘ im Sinne von ‚losgelöst von jeder Beeinflussbarkeit von aussen‘ hinstellen, fühlen wir uns so sicher, dass uns Zweifel oder gar völlige Ablehnung anderer nicht tangiert. Denken wir an Wahrnehmungen, denen wir uneingeschränkte Liebe entgegenbringen. Wenn wir nicht fürchterlich schwache Figuren sind, kümmert es uns wenig, wenn andere dem Ziel unserer Liebe nicht dieselben Gefühle entgegenbringen. Die Ansichten oder Emotionen Anderer können uns nicht erschüttern.

Innersubjektive Gewissheit

Wie liesse sich dieser Kurzschluss vermeiden? Das Bedürfnis nach Halt, nach sicherem ‚Es gibt…‘ ist nachvollziehbar und schreit nach Befriedigung. Descartes fand ja witzigerweise im schaumigen Traume die Gewissheit, dass er als Subjekt existiere, da er ja gerade an aller Existenz zweifle und darüber nachsinniere. An seiner subjektiven Gewissheit über seine Existenz als Subjekt ist an sich nichts auszusetzen, aber sauber logisch gedacht hilft das noch keinen einzigen Schritt weiter, denn erstens kann der ganze Descartes mitsamt seiner subjektiven Gewissheit für den Rest der Welt – so es einen solchen gibt – inexistent sein, ein Traum, eine Illusion, eine Einbildung, eine Täuschung. Und zweitens hilft dem sich mit Gewissheit als existent fühlenden Descartes seine innersubjektive Sicherheit wenig, wenn es darum geht, eine Aussage über das Aussen, den Rest der Welt zu machen.

„Ich bewege mich, also bin ich!“

Witziger und auch für pragmatische Zeitgenossen erlebbar ist der Spruch, den ich im Swiss Olympic-Magazin las: „Ich bewege mich, also bin ich!“ Man muss weder Spitzensportler noch Masochist sein, um diesen Satz mit Blut, Schweiss und Tränen zu füllen. Das Experiment ist denkbar einfach: Wer an dieser Art der Entstehung subjektiver Gewissheit betreffend seiner körperlichen Existenz zweifelt, renne doch einfach los bis zum Umfallen – und dann noch ein gutes Stück weiter und halte erst ein kurz vor der Ohnmacht (die kommt später als du denkst!). Wer sich dann noch nicht als körperliches Wesen wahrnimmt – naja, der renne weiter.

Aber auch dieses starke subjektive Erlebnis hilft wenig weiter, wenn es um die Existenz des Aussen, der Objekte, der Anderen, des Abgespaltenen, der Welt – um das ‚Es gibt…‘ geht.

Wenn ich nun eine Alternativlösung anbiete, so falle ich damit wohl aus dem Dunstkreis der wahren Philosophen, die nur ‚die Fragen schärfer stellen‘, für die das Beitragen zu Lösungen irgendwie etwas Ordinäres, ja Verabscheuungswürdiges hat – auf jeden Fall nichts Ernstzunehmendes. Hélas – mit einem pathetischen Seufzer nehm‘ ich den tiefen Fall aus dem Glashaus in Kauf und tue es trotzdem: hier ist die These, die ich immerhin in klug klingendes Latein zu verpacken imstande war:

Amo, ergo fui

Vor meinem inneren Ohr erfolgt jetzt eine ‚Standing-Ovation‘ und der Festredner müsste zur Laudatio anheben: „Fünf Silben, die die Welt verändern…“

Da es sich dabei leider wieder einmal nur um eine innersubjektive Gewissheit handelt, komme ich auf den Boden – welchen auch immer – zurück und begnüge mich mit dem Hinweis, dass fui nicht die norddeutsche Fassung von „Pfui!“ ist, sondern die erste Person Singular Perfekt von esse = sein , das Sätzchen also übersetzt werden könnte mit

Ich liebe, also bin ich gewesen

Das mit der Liebe mag ja noch einleuchten: In der Liebe erfährt man sich in besonders intensiver Weise. Dann wären wir aber nicht weiter als Descartes und Swiss Olympic und hätten einfach eine erfreuliche Methode mehr, subjektive Gewissheit über unsere subjektive Existenz zu erlangen.

Was aber soll die Vergangenheitsform? Wieso bin ich nicht, wenn ich liebe, sondern bin ich gewesen? – Hier liegt natürlich der Hase in des pfeffrigen Pudels Kern begraben: Und wenn wir schon bei den Tieren sind, lass‘ ich jetzt die Katze aus dem Sack:

Ich liebe, also bin ich ein Ich gewesen.

So wird klarer, welche Liebe ich meine: Die, bei der sich das Ich auflöst. Und es zeigt sich, welche Liebe NICHT gemeint ist: die klebrige, besitzgierige, eifersüchtige, haben-wollende Liebe. Es ist die AGAPE, die bedingungslose Liebe gemeint. Aber sie ist nicht mehr so furchtbar fromm-spirituell-erleuchtet weit weg wie im Neuen Testament. Denn jeder hat schon erlebt, dass sich sein Ich – wenigstens für einen Moment – auflöst in der liebenden Vereinigung, und sei es nur in der körperlichen.

In dem lateinischen Dreiwort-Sätzchen steckt aber noch mehr: Wenn sich mein Ego in der liebenden Vereinigung auflöst, kann ich ex post feststellen, dass da vorher etwas war, was sich nun soeben aufgelöst hat. Ich kann mit grosser Sicherheit sagen, dass es nicht Nichts war, was sich da soeben liebend aufgelöst hat. Es war da etwas Begrenztes, dessen Grenzen sich soeben in der Liebe aufgelöst haben. Der Spruch ist m.E. eine erkenntnistheoretische Bombe, da er das Lieben nicht nur als aus irgendwelchen ethischen oder spirituellen Gründen förderungswürdig hinstellt, sondern auch dem nüchternen Erkenntnis-Suchenden klar macht, dass es sich beim Lieben um eine mindestens so erfolgversprechende Erkenntnisgewinnungs-Methode handelt wie beim analytischen Zweifeln.

Lieben im Sinne der Vereinigung mit dem Objekt ist jedesmal eine Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung – in der Regel räumlich und zeitlich begrenzt, aber immerhin. Und genau diese Subjekt-Objekt-Spaltung erzeugt ja, wie ich oben zu zeigen versuchte, systemimmanent und verständlich diesen Abstand, der für die Erkenntnis nötig ist, der aber gleichzeitig Angst und Unsicherheit erzeugt. Also gewinnen wir mit dieser neuen Art von liebender Erkenntnis gleichzeitig ein Instrument in die Hand zur Überwindung der Angst und aller daran klebenden Grundübel? – Fast zu schön, um wahr zu sein.

Zwei Arten von Erkenntnis

Um der lieben Ordnung willen müssen wir den Begriff ‚Erkenntnis‘ unterteilen in die eine Unterart, die erst durch die Subjekt-Objekt-Spaltung möglich wird, für die der Abstand zwischen Erkennendem und Erkanntem, zwischen Subjekt und Objekt notwendige Voraussetzung ist, und die andere Unterart, die gerade durch die Aufhebung dieses Abstands, durch die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung zustande kommt. Die erstere nennen wir häufig ‚rationale‘, ‚analytische‘ oder ‚wissenschaftliche Erkenntnis‘. Mir passt nicht in den Kram, dass die entsprechenden Antonyme negativ besetzt sind: ‚irrational‘, ’synthetisch‘, ‚unwissenschaftlich‘. Wenn wir näher an den entscheidenden Unterschied der Subjekt-Objekt-Spaltung herangehen, könnten wir die rational-analytische ‚Spaltungs-Erkenntnis‘ nennen und die durch Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, durch Vereinigung gewonnene Erkenntnis ‚Vereinigungs-Erkenntnis‘. In diesen Begriffen schwingt die Zusammengehörigkeit der beiden gegensätzlichen Vorgänge der Analyse und der Synthese mit; die Einsicht, dass Synthese, Zusammenfügung nur Sinn macht, wenn vorher Analyse, Separierung, Trennung erfolgte.

Sowohl-als-Auch

Das Sowohl-als-Auch ist mir – auch hier – ein zentrales Anliegen. Es geht nicht darum, die eine Erkenntnis-Art gegen die andere auszuspielen, sondern sie in ihrer Verbundenheit, ihrer Interdependenz, ihrer gleichen Gültigkeit zu erfahren, wie wir das Einatmen und das Ausatmen zwar als Gegensätze, aber frei von Wertung, als sich zum grösseren Ganzen, zum Atem erGÄNZende Elemente erleben. Synthese bedarf – nicht nur bei der Erkenntnis – der vorgängigen Analyse; Zusammenfügung ist nur möglich, wo vorher getrennt wurde, Vereinigung bedarf der Spaltung. In der zeit- und raumlosen Ewigkeit der Einheit – ‚in Gott‘ – ist weder das eine noch das andere denkbar, mithin auch keine Erkenntnis im hier besprochenen Sinne. Partielle Gottes-Erkenntnis ist nur möglich in den beiden Vorgängen der Spaltung und der Vereinigung. Dafür muss aber Einheit und Ewigkeit zuerst einmal ohne Reue und Gejammer zerstückelt, geopfert, das Paradies verlassen und durch Zeit, Raum und Ich-Bewusstsein ersetzt werden. Der ganze Sinn der Welt und des Lebens im Zeit-Raum-Kontinuum könnte also formuliert werden als Gottes-Erkenntnis, die paradoxerweise nicht möglich ist, solange man in der Einheit der Ununterschiedenheit, ‚in Gott‘ ist. Erst das Sich-Vorfinden als abgetrenntes Subjekt, die analytische Spaltungs-Erkenntnis der Objekte macht das Wahrnehmen der Vielheit möglich, das aber Angst, Orientierungslosigkeit und Verzweiflung auslöst, die das Bedürfnis weckt nach der dazu polaren Gegenbewegung, der liebenden Vereinigungs-Erkenntnis, die den aufgerissenen Spalt, den Abgrund wieder überwindet, heilt, das Getrennte zusammenfügt – diesmal mit dem Preis der Aufgabe des definierten, abgegrenzten Ichs und der für die Spaltungs-Erfahrung notwendigen Hilfsparameter Zeit und Raum.

Die Unvollständigkeit der Vereinigungs-Erkenntnis

Eine partielle, liebende Vereinigung umfasst ja meist nur einen bestimmten Bereich: ein Wesen, ein Ding, ein Thema, ein Gebiet – darin zeigt sich die räumliche Begrenzung – und eine beschränkte Zeitdauer: einen Jetzt-Moment, eine Zeit der Intensität mit einem Wesen, Ding, Thema etc. Wenn wir nach diesem Erlebnis der Vereinigungs-Erkenntnis wieder in den ‚Normal-Modus‘ der Subjekt-Objekt-Spaltung zurückkehren und mit der analytischen Ratio den ganzen Prozess zu beschreiben versuchen, so stellen wir fest, dass da etwas war, was sich partiell und zeitlich beschränkt auflöste und sich dann teilweise wieder bildete: Etwas Abgegrenztes, dem wir hier einmal das Etikett ICH oder EGO aufkleben. Da diese linkshemisphärisch-rationale Erkenntnis von einem rechtshemisphärisch-ganzheitlichen Erlebnis – der liebenden Vereinigung und allenfalls der darauffolgenden Ernüchterung – gestützt wird, ergibt sich eine starke Gewissheit, dass da etwas gewesen ist, was über die Grenzen trat und damit die vormaligen engen Grenzen sprengte. Mit dieser Grenzsprengung des Ichs treten wir aber auch aus dem Verhaftetsein in der Subjektivität heraus und erleben diese Ich-Auflösung nicht nur als Erkenntnis vermittelnd, sondern auch als in hohem Masse beglückend. Die Erkenntnis besteht sowohl in der ex post erlangten grösseren Klarheit über unser Ich und wie es begrenzt, also definiert war vor der Auflösung, als auch in der grösseren Klarheit über das neue Ich nach dem Rückfall in den Spaltungsmodus. Denn in aller Regel finden wir uns nach einem solchen Vereinigungs-Erlebnis als zumindest ein klitzekleines bisschen Verwandelte vor.

Diese zwei Zustände können wir miteinander vergleichen. Mit der Erkenntnis der Unterschiede erfahren wir aber auch etwas über das Du, das Objekt der Vereinigung und zwar in einer anderen Qualität, als wenn wir es nur kalt-analytisch als das Gegenüberliegende, ‚Entgegen-Geworfene‘ anschauen. Denn wir haben ja gleichzeitig mit allem, was uns ausmacht ausserhalb der Ratio, die liebende Vereinigung erlebt und die besteht gerade darin, dass wir uns dem Gegenüber öffnen, es hereinlassen und damit das ‚gegen‘ in ein ‚mit‘ verwandeln, die Distanz aufgeben, die Grenze aufheben, aus dem Objekt einen Teil von uns machen, das Objekt ins Subjekt integrieren (Animus-Perspektive) bzw. umgekehrt unsere Subjekthaftigkeit aufgeben und uns ins Objekt hinein aufgeben, uns hingeben (Anima-Perspektive) oder schlicht uns vereinigen und etwas Neues werden (Synthese-Perspektive).

Als ‚Sahnehäubchen‘ setze ich noch drauf, dass sowohl das hebräische Wort für ‚erkennen‘ – jāda‛ – wie das griechische ‚γιγνώσκω‘ – auch ‚vereinigen‘ heisst – und zwar nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz unzimperlich-konkret geschlechtlich vereinigen. Sogar seltenen Kirchgängern ist vielleicht die alttestamentliche Formulierung in Erinnerung ‚Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar Kain…‘ (1. Mose 4.1). Da hat er sie wohl auch nicht nur nett (an)erkennend angeschaut?

Woran erkennen wir die für die Vereinigungs-Erkenntnis nötige Liebesqualität?

Das Auflösen der Ich-Grenzen durch Vereinigung mit irgendetwas, was vorher als ausserhalb dieser Grenzen wahrgenommen wurde, ist für mich das sicherste Merkmal von Agape-Liebe, von bedingungsloser, nicht berechnender Liebe, die sich abhebt vom ‚do, ut des‘, ‚ich tue, damit du tust‘, vom Vertrag ‚Wenn du mich liebst, lieb ich dich auch‘. Natürlich erleben die meisten Menschen solche Zustände nur selten, zeitlich und räumlich beschränkt, gewisse erleben es überhaupt nie – es ist wie so oft eine Frage der Angst, der Enge, des Zusammengezogenseins, ob man sich traut, wenigstens für Momente die Sicherheit der eigenen Haut, des eigenen Profils, der vermeintlichen Identität aufzugeben.

Wie unterscheiden wir das blosse Gefühl der Ich-Auflösung von der tatsächlichen Ich-Auflösung?

Es sind ja innere Prozesse, innere Grenzen, Bewusstseinsgrenzen, die sich da öffnen. Und wir haben das alte Problem, dass wir in der Philosophie und der Psychologie das Untersuchungsobjekt mithilfe des Untersuchungsobjekts untersuchen: Das Bewusstsein untersucht das Bewusstsein. Das Bewusstsein eines Subjekts konstituiert sich aber primär an seinen Grenzen: ‚Das bin ich, das gehört zu meinen Bewusstsein, und das bin ich nicht, das gehört nicht dazu.‘

Es ist also bereits die ‚Hohe Schule des Bewusstseins‘, wenn es darum geht, mit dem Bewusstsein als Instrument nicht nur irgendeine Veränderung an ebendiesem Instrument zu untersuchen, sondern just die zumindest partielle und vorübergehende Auflösung der Bewusstseinsgrenzen festzustellen. Dass da der rein analytische linkshemisphärische Teil des Bewusstseins Mühe kriegt, leuchtet ein, denn der kann ja gerade nur in Grenzen denken. Er de-finiert – (de = von-weg, finis = Grenze), der rational-analytische Verstand steckt Grenzen ab, Analyse heisst immer, Abgegrenztes mit anderem Abgegrenzten zu vergleichen. Das Bewusstseins-Instrument kann versuchen, analytisch den Prozess des Grenzverlaufs seiner selbst vor und nach dem Liebes-Erlebnis der Vereinigungs-Erkenntnis zu beschreiben. Aber ohne Hinzunahme des rechtshemisphärischen, intuitiven, ganzheitlich wahrnehmenden Teils des Bewusstseins dürfte es schwierig werden, den Prozess für andere nachvollziehbar zu machen.

Wenn es nur um die eigene Erfahrung der Ich-Auflösung geht, dann reicht wahrscheinlich das Gefühl der Ich-Auflösung. Wenn wir aber darüber kommunizieren wollen, brauchen wir handfeste Beispiele, idealerweise aus einem gemeinsamen Erlebnisbereich der Kommunizierenden. Wir geraten hier allerdings gleich an eine weitere Schwierigkeit: Sprache ist ein primär linkshemisphärisches, für die Spaltungs-Erkenntnis durchaus taugliches Kommunikationsmittel, das aber rasch an seine Grenzen stösst, wenn es darum geht, rechtshemisphärisch-ganzheitliche Inhalte zu übermitteln. Wir kennen das alle, wenn wir versuchen, von Träumen, Intuitionen, Visionen, Glücks- und Liebeserlebnissen zu erzählen. Wir kommen ins Stammeln, suchen nach Worten und Sätzen, unsere Sprache wird metaphorisch, bildreich, poetisch und immer wieder paradox, widersprüchlich, weil es ja gerade um das Gegenstück zur rational-analytischen Spaltungs-Erkenntnis geht. Je nach Lust und Begabung greifen wir auch zu geeigneteren Kommunikationsmitteln wie Körpersprache mit Mimik, Gestik, Bewegung, Tanz, Spiel, aber auch zu Ausdrucksmitteln wie Musik, Malerei, Gestaltung. Meist unbewusst arbeiten wir auch ständig mit unserer Energie-Sprache, mit unserer Ausstrahlung, mit der wir die verwendeten Kommunikationsmittel einfärben und aufladen.

Alles oder Nichts?

Was ist nun wirklich im Sinne von wirkend, in unserer subjektiven Welt real an diesem Prozess der Vereinigungs-Erkenntnis? Was geht über das subjektive Gefühl hinaus, mein Ich habe sich zumindest kurzfristig und partiell aufgelöst? Je nach Sichtweise: Alles – oder Nichts.

Nichts hat sich an unserer subjektiven Wirklichkeit geändert, wenn wir uns in haargenau denselben Ich-Grenzen vorfinden wie vor dem Liebeserlebnis, vor der Vereinigungs-Erkenntnis. Das ist aber ein untrügliches Zeichen dafür, dass es keines war. Dann hatte das Erlebnis mit der hohen Form der Liebe leider nichts zu tun, sondern ist irgendwo im Bereich der klebrig-besitzgierigen Liebe anzusiedeln. Nicht weiter tragisch, wir haben ja beliebig Zeit, weiter zu probieren.

Alles hat sich verändert, wenn wir wahrnehmen, erkennen, erleben, ganzheitlich wissen, dass wir nicht mehr dieselben sind wie zuvor, dass wir unser Ich-Bewusstsein in dem Liebeserlebnis der Vereinigungs-Erkenntnis tatsächlich erweitert (Animus-Perspektive) bzw. unsere Ich-Grenzen tatsächlich dem vorher als fremd und aussen Wahrgenommenen geöffnet, uns liebend dem Gegenüber hingegeben haben und es damit aus seiner Gegenüberposition und angstauslösenden Fremdheit befreit, erlöst haben (Anima-Perspektive). Wer diese Tiefe der Vereinigungs-Erkenntnis je erlebt hat, weiss, dass sich alles verändert hat.

Die Permanenz der Veränderung

Die Hauptveränderung ist dabei die Einsicht in die Permanenz der Veränderung, in die ‚Ewigkeit‘ des Wandels. Denn wer es einmal erlebt hat, will es immer wieder erleben, erkennt ganzheitlich den mit nichts anderem vergleichbaren Lust- und Glücks-Gewinn, der in dieser Ich-Auflösung liegt. Für im materialistischen und patriarchalischen Zeitparadigma Lebende klingt es absurd, dass in einem Weniger – der partiellen Ich-Auflösung – ein Mehr, ein Lust- und Glücksgewinn liegen soll. Ihnen hilft die Formulierung aus der Animus-Perspektive: der Glücksgewinn liegt in der Erweiterung der Ich-Identifikation, im Dazunehmen von immer mehr Äusserem, Fremdem, im Integrieren der Objekte, des Schattens, den wir da draussen wahrnehmen. Dieses unablässige Grösser-Werden, Wachsen, In-sich-Hineinstopfen passt schon leichter in die Vorstellungswelt des Materialisten, sagt aber letztlich genau dasselbe wie das Anima-Bild der Hingabe durch Grenz-Öffnung. Denn auch dem hartgesottensten Fusionisten und Globalisierer sollte – spätestens am Beispiel von Giganten wie Microsoft, Google, Amazon – klarwerden, dass beim Grösserwerden Profil verlorengeht, die Markanz der Grenzen, der ein Unternehmen, ein Ding eine Entität definierenden Eigenschaften abnimmt, die Haut durch die Aufblähung dünner wird – und dass ganz am Schluss nur zwei im Endeffekt sehr ähnliche Lösungen warten: Entweder platzt die Haut und der ganze Inhalt verteilt sich und gehört wieder allen, oder das Ding umfasst irgendwann alles, was existiert, die Weltmacht ist gleichzeitig der Weltkonzern, umspannt alles, beinhaltet alles – und entspricht so auch wieder der Ganzheit der jeweilig gerade aktuellen ‚Welt‘. In beiden Fällen hat sich das ursprünglich markante, klar definierte ‚Ich‘ bzw. die Unternehmens-Identität aufgelöst.

Die Meer-Metapher

Ein schönes Bild für den Wandel des Ich-Bewusstseins durch Vereinigungs-Erkenntnis ist das Meer: Jedes Ich entspricht einem kleinen Fläschchen mit Meerwasser. Die Animus-Version der Vereinigungs-Erkenntnis wäre in diesem Bild das Abfüllen von immer mehr Meer in immer grössere Behältnisse, bis alle Meere im selben riesigen Becken vereint sind. Die Anima-Variante ist das Öffnen des Ich-Fläschchens und die Hingabe der Flüssigkeit an das allumfassende Meer.

Ziel der Veränderung

Die behauptete Permanenz der Veränderung, der unablässige Wandel des Ich-Bewusstseins ist nun aber nicht Selbstzweck, sondern steuert auf ein klares Ziel zu: die völlige Vereinigung mit allem, was ist – und damit die Gottes-Erkenntnis oder Gott-Werdung. Wenn das in den Ohren monotheistischer Dogmatiker jüdischer, christlicher oder islamischer Provenienz blasphemisch klingen sollte, dann können wir die Metapher ‚Gott‘ – wie oben – durch die Metapher ‚Einheit‘ ersetzen.

Ziel aller Aktivität im Modus der Vielheit ist, zu erkennen, und über diese Erkenntnis zurück in den Modus der Einheit zu gelangen. Anders gesagt: Ziel der Veränderung, die spätestens beim ersten Erlebnis von Vereinigungs-Erkenntnis einsetzt, ist die völlige Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung. – Aber Achtung, Stolperstein: Auch wenn das ZIEL die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung ist, so ist damit nicht gesagt, diese sei schlecht, es sei ein Jammer, dass Eva den Apfel der Erkenntnis gepflückt und damit den Anstoss für das Verlassen des ‚Paradieses‘ – wieder eine Metapher für die ‚Einheit‘, für das ‚In-Gott-Sein‘ – gegeben habe und es eile ganz schrecklich, aus diesem grauslichen Seinsmodus zu entfliehen. Wer so einäugig daher redet – und das taten einige in den letzten paar tausend Jahren – vergisst, dass die Spaltung, die Trennung zwingende Voraussetzung ihrer Überwindung, der Vereinigung ist, dass die Spaltung eine sinnvolle, ja auch höchst amüsante, abenteuerliche, faszinierende, wunder- und erlebnisvolle ist. Und dass das Zuhausebleiben, das Sitzenbleiben in der Einheit nicht nur langweilig, sondern vor allem auch infantil und feige ist.

Erwachsenwerden heisst weggehen aus der Einheit, aus dem ‚Haus des Vaters‘ und kämpfen, den Versuch wagen, frei zu werden von aller Bindung, von aller Rück-Bindung (re-ligio kann man übersetzen mit Rück-Bindung) an die Herkunft, an die Einheit, an den Modus jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung, den Modus jenseits der Physis, aus dem wir angeblich kommen sollen. Erwachsenwerden heisst frei zu werden von der Meta-Physis. Damit ist auch klar, dass dieser Freiheitskampf zwingend eine Verherrlichung der Physis bedingt. Und ebenso natürlich geht mit der Negierung der Metaphysis die Verabsolutierung der Physis einher: Prometheus stiehlt sich davon aus dem Olymp, klaut das Feuer des Verstandes und negiert dann zuerst einmal die Autorität der Götter und damit gleich ihre Existenz als ‚wahre‘ Götter, als ernstzunehmende Instanz. Das Nein zu Gott, das arrogante Emporrecken (Prometheus ist ein Titane und das griechische Verb ‚titanein‘ heisst ’sich herausrecken‘) der Faust und des Hauptes, das Sich-Erheben gegen Gott – versinnbildlicht im aufrechten Gang des Menschen – ist die notwendige Voraussetzung für echte Demut, für das Sich-Beugen, das Sich-wieder-Eingliedern in die Ordnung des Kosmos, für die Rückkehr ins Haus des Vaters. Goethe erfasste diesen ersten Teil des Weges in seinem rebellischen Sturm-und-Drang-Gedicht ‚Prometheus‘: „Bedecke deinen Himmel, Zeus…“ – und balancierte es aus mit dem späten, von tiefer Demut zeugenden Gedicht ‚Grenzen der Menschheit‘: „…Denn mit Göttern soll sich nicht messen irgendein Mensch…“

Dieser ganze erste Teil des Weges ist nicht nur einleuchtend, plausibel, richtig, sondern auch logisch zwingend, wenn wir vom Axiom des archetypischen Wegs ‚Einheit-Vielheit-Einheit‘ ausgehen. Deshalb steht es im hier vorgestellten Welterklärungsmodell keinem zu, der auf dem Heimweg ist, die zu verurteilen oder gar zur Umkehr anzuhalten, die gerade erst aufbrechen, die am Weggehen sind, frisch-fröhlich unterwegs Richtung selbstgebastelte Freiheit, Richtung Ego-Autonomie – mit dem ganzen weltverbessernden Ungestüm der Jugend. Auch all die wohlmeinenden Ratschläge, mit denen die ‚Heimkehrer‘ die ‚Sturm-Dränger‘ auf das zwingende Scheitern ihres Vorhabens aufmerksam zu machen versuchen, werden richtigerweise in den Wind geschlagen. Jeder hat – und dies entbehrt jeglichen zynischen Untertons – ein genuines Anrecht darauf, zu scheitern, denn das Scheitern ist unentbehrliche, eine not-wendige, not-wendende Voraussetzung für einen echten Heimweg.

Das Scheitern ist not-wendig

Das Scheitern dieses Freiheitskampfes des Individuums, des sich allein zum Massstab, zum Gesetz machenden Teils eines grösseren Ganzen, ist systemimmanent, innerhalb des vorgestellten Modells unvermeidbar. In jeder Entität schlummert die Ahnung von der Autonomie, der Freiheit, der Ganzheit der Einheit. Diese Ahnung ist durchaus berechtigt, denn in jeder Entität glimmt dieser Funken Göttlichkeit. Die Illusion besteht nun aber im Glauben, der Funken sei das ganze Himmelslicht, die einzelne Entität sei in ihrer Abgegrenztheit ebenfalls eine Ganzheit. Dass es sich dabei um eine Täuschung handelt, können wir auf sämtlichen Ebenen unserer Wahrnehmung erfahren: Auf der Körperebene zeigt uns z.B. die Krebszelle die Erfolglosigkeit des Ausscherens aus der Ordnung des Gesamtorganismus. Der Versuch, den ganzen Organismus, die Zellgemeinschaft ‚Körper‘ nach eigenem Gesetz umzustricken, führt früher oder später zum Tod der gesamten ‚Fehl-Konstruktion‘. Das nach Autonomie und ‚Weltherrschaft‘ drängende Teilchen – die Krebszelle – zerstört bei diesem Versuch ihre Welt.

Wir sehen den gleichen Prozess aber auch auf der Ebene von menschlichen Gemeinschaften, von Familien über Unternehmen bis zu Nationen, Ethnien, Rassen und der ganzen Erdbevölkerung: Überall, wo sich Einzelteile für völlig autonom erklären und die Verbindung zum Ganzen kappen, geht letztlich das vor die Hunde, was das Einzelteil für seine Welt hielt. Aber auch nicht mehr – und deshalb ist der so fürchterlich zerstörerisch wirkende und ständig alle Weltverbesserer auf den Plan rufende Prozess letztlich sinnvoll, not-wendig, also die Not wendend. Die Not des Scheiterns muss aber zuerst entstehen, damit sie gewendet werden kann. Der Weg weg muss gegangen werden, damit eine Wende, eine Rückkehr möglich wird. Das ist dicke Post für alle fanatischen Welt-Retter, die vom ewigen Frieden träumen, deren Ziel das Stabilisieren gleichbleibender Zustände ist, die alles daran setzen, die Unsicherheit der Prozesse, der gegenläufigen und damit zwingend Konflikte generierenden Wege einzudämmen. Das Engagement des Weltverbesserers ist nachvollziehbar, denn es ist einmal mehr die Angst vor der Unberechenbarkeit und Konflikthaftigkeit des Wandels und die Ahnung von der Stabilität und Konfliktfreiheit in der Ununterschiedenheit der Einheit, die ihn treiben. Die Täuschung ist so alt wie die Menschheit: Auch die Jünger Jesu verwechselten die ganze Zeit Himmel und Erde, Gottes Reich und die irdischen Reiche. Der Weltverbesserer will aus dem Robinson-Spielplatz ein Kloster oder ein Alters- und Pflegeheim machen, stellt Regeln auf, damit möglichst nichts passiert – dabei haben die Kinder ein Anrecht darauf, dass etwas passiert, sie wollen und dürfen ihre Kräfte messen, Abenteuer erleben, Risiken eingehen, Siege und Niederlagen einstecken. Wer über diese Entwicklungsphase hinaus ist, ändert seine Welt freiwillig. Wer sich wirklich innerlich wandelt nach dem Scheitern, wer sich bewusst und aus freien Stücken auf den Heimweg begibt, dessen äussere Welt wandelt sich mit. Er nimmt anders wahr, das Geschrei des Robinson-Spielplatzes dringt nicht mehr bis zu ihm – und wenn er es noch hört, stört es ihn nicht mehr.

Selbstverständlich darf und soll die Gemeinschaft Regeln erlassen und auch durchsetzen, die das simultane Nebeneinander von auf dem Hin- und Rückweg Befindlichen zulassen. Aber sie tut gut daran, die Regeln im Bewusstsein zu erlassen, dass sie für gegenläufig sich Bewegende, für richtigerweise in sich wandelnden, widersprüchlichen Wertsystemen Denkende bestimmt sind. Der weise Rechtsstaat, die weise Gemeinschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nur Leitplanken aufstellt für beide Richtungen des archetypischen Weges – und Auffangnetze für Strauchelnde und Fallende. Alles Regulative, was darüber hinausgeht, was Bewertungen absolut setzt, behindert entweder den Hin- oder den Rückweg. Gesetze haben die Funktion, allen den ganzen Weg zu ermöglichen, aber weder die genaue Route vorzuschreiben noch einen Teil des Weges höher zu bewerten als den andern.

Grenzüberschreitungen auf der ersten Weghälfte bis zum Scheitern sind systemimmanent. Die Gemeinschaft kann versuchen, sie präventiv zu kanalisieren und die übelsten Fälle repressiv zu ahnden – völlig vermeiden lassen sie sich nicht. Denn äussere Grenzüberschreitungen sind Voraussetzung für die innere Infragestellung der eigenen Grenzen. Erst das Erlebnis äusserer Machtentfaltung und das Scheitern dieser Macht erzeugt den Nährboden für die Einsicht, dass es die innere Macht ist, die zur Autonomie führt, vom beschränkt autonomen Ego zum unbeschränkt autonomen Selbst. Aber solange wir auf dem Hinweg sind, in der abenteuerlichen Illusion der äusseren Machtentfaltung, den äusseren Grenzüberschreitungen, zerstören wir immer wieder einen Teil des Ganzen, den wir noch nicht als Teil des Selbst, als zu uns gehörig erkannt haben.

Doch diese Zerstörung trifft nie die Substanz, den göttlichen Funken, die Seele, den Inhalt, sondern immer nur die Form, die Hülle, den Körper, das Aussen. Die Krebszelle zerstört beim Versuch, die totale Autonomie und Freiheit zu erlangen, den Körper, den sie als ihre Welt betrachtete. Der Mensch, der sich zum Gesetz erklärt und reihenweise ‚Feinde‘ oder ‚Terroristen‘ ermordet, bringt deren aktuellen Körper, die äussere Hülle um. Das mag für Materialisten, die den Körper mit der Substanz einer Entität gleichsetzen, zynisch klingen, für mich ist es das nicht, da für mich die Essenz eines Wesens unabhängig ist von seinem ‚Fahrzeug‘, von seinem äusseren Kleid, und da ein Subjekt im hier vorgestellten Modell keine Realität ausserhalb seiner subjektiven Welt schaffen kann. Der Staat, der ein anderes Land erobert und besetzt, nimmt nur das Territorium in Besitz, das er als den Kern dieses Landes, als die zu erobernde Welt betrachtet. Es ist immer Gebastel in und an der eigenen Welt des Freiheitskämpfers.

Diese vermeintliche Aussenwelt ist – so paradox das für viele klingen mag – im hier vorgestellten, auf dem Axiom der Subjekt-Objekt-Spaltung beruhenden Welterklärungsmodell immer nur der Schatten des Protagonisten , die nach aussen gestülpte Innenwelt, die Projektion all dessen, was der jeweilige Kämpfer gerade noch als ’nicht zu mir gehörig‘ bestimmt und ausserhalb seiner Ich-Grenzen lagert.

Verantwortung und Zufall

Diese Relativierung der Wirklichkeit, der Realität unserer Welten und unseres Tuns entbindet uns jedoch nicht von der Verantwortung. Im Gegenteil: innerhalb unserer Welt sind wir einleuchtenderweise für alles verantwortlich, was uns widerfährt. Das ist deutlich mehr als das, wofür wir in einem Rechtsstaat belangt werden können. Die Eigenverantwortung umfasst alles, die Spiegelung unseres Entwicklungsstandes ist lückenlos. Das muss aber nicht diesen bedrohlichen Unterton kriegen, den westliche Rezeption der östlichen Karma-Lehre meistens anklingen lässt. Verantwortung heisst ja immer auch Kompetenz. Wir können also unsere Welt auch laufend verändern, indem wir uns und unsere Wahrnehmung ändern. Wir sind auch für alles verantwortlich, was wir als positiv, schön, faszinierend bewerten. Es liegt ganz allein bei uns, es zu mehren bzw. unsere Wertung zu ändern. Aber innerhalb dieser Gross-Verantwortung gilt natürlich immer auch die in Form von Regeln der Gemeinschaft erscheinende Verantwortung. Selbstverständlich gelten die Regeln der Gemeinschaft, in der wir uns befinden – in meiner Diktion: in die wir uns selbst hineingestellt haben, die wir uns selbst gebastelt haben und die wir mit unserer Entwicklung laufend verändern. Nur gelten sie aus dieser Sicht nicht zufälligerweise, ist es nicht Zufall, dass ein Teil unserer Taten geahndet, andere unentdeckt bleiben, ist es nicht Zufall, in was für einer Gemeinschaft wir uns vorfinden.

Es ist überhaupt nichts Zufall, ausser man ändere den Zufallsbegriff und bezeichne damit das, was uns sinnvollerweise zufällt, was uns das Schick-Sal zu unserem Heil schickt (Heil = lat. salus). Ich gebe es höchst ungern zu, aber die Etymologie sal = salus lässt sich leider Gottes nicht belegen, noch nicht! Aber da sie so schön ist, lass ich sie mal stehen. Nennen Sie das Volks-Etymologie, völlig egal. Hauptsache, Sie lassen sie genüsslich auf der Zunge zergehen und verinnerlichen sie: Schicksal ist das, was Sie sich selbst zu ihrer Entwicklung in Richtung Ganzwerdung, Heilwerdung selbst zuschicken. Es braucht in diesem Modell weder Götter noch Nornen noch sonstige äussere Schicksalsmächte: Sie tun es selbst, indem Sie Ihr Inneres nach aussen stülpen, damit Sie im Spiegel Aussenwelt das erkennen können, was Sie in sich nicht sehen können oder nicht sehen wollen.

Für alle die, denen ‚Heil‘ immer noch etwas ‚drittreichig-sauer‘ aufstösst, können wir dasselbe mit weniger Pathos formulieren: Zufall ist das, was wir uns selbst durch unsere Art, den Entwicklungsweg zu gehen, durch unsere Verweigerung oder Freiwilligkeit der Schattenintegration bescheren, was wir anziehen und uns zufallen lassen bzw. was uns anzieht, was uns attraktiv, der Rede und des Erlebens wert erscheint durch seinen Schrei nach Abwehr, Veränderung oder Nachahmung.

Lust und Abenteuer

Diese Totalverantwortung für unsere eigene Welt und die Einsicht in die Richtigkeit des prometheischen Prozesses, des Versuchs, Autonomie zu erlangen, hat aber auch etwas ungemein Entspannendes. Der ganze moralinsaure Druck, den die meisten Religionen und Philosophien seit der Antike auf die sinnenfreudigen Erdbewohner ausübten, zerplatzt wie eine Seifenblase. Ich-Aufplusterei, Lustbefriedigung, Kitzel der Gefahr, der Reiz des Verbotenen, alle Formen von Abenteuer und Grenzerfahrungen (!) – alles darf sein, muss sein. Grenzerfahrung, das Ausloten der Grenzen ist Vorbedingung für deren Infragestellung. Hybris, der Hochmut des Ichs ist der zwingend notwendige Nährboden, ohne den keine Demut wachsen kann. Der Aspekt der Zusammengehörigkeit dieser Gegensätze, das Sowohl-als-Auch von Weggehen und Zurückkehren, von Aufbegehren und Sich-Einfügen, von Emporrecken und Sich-Beugen, von Nein zu Gott, zum Vater, zur Metaphysis, zur Einheit als Voraussetzung für ein echtes, freiwilliges Ja kann meines Erachtens gar nicht genug betont werden. Allzuleicht blendet sonst der Interpret dieser Zeilen – je nach eigenem Entwicklungsstand – die eine Hälfte des Weges aus oder bewertet sie als falsch, als zu vermeiden.

Das Scheitern ist unabhängig von der ‚Performance‘

Das Scheitern dieses richtigen und sinnvollen Freiheitskampfes ist systemimmanent und unvermeidbar, völlig unabhängig von der ‚Performance‘ des Protagonisten. Der eine mag etwas weiter kommen in der äusseren Autonomie, indem er mehr Güter, mehr äussere Verfügungsmacht ansammelt, der andere mag etwas weiter kommen in seiner inneren Autonomie, indem er sich freimacht von Vorgedachtem, Vorgekautem, sich seiner Enkulturation bewusst wird, die klebrigen Fesseln seines Zeitparadigmas sprengt – zur völligen Autonomie kann der Spaltungsweg in keinem Fall gelangen. Auto-Nomos meint, sich selbst Gesetzgeber und Gesetz sein, eine völlig eigenständige Ordnung, ein eigener Kosmos sein. Dies kann einem abgespaltenen Teil eines Ganzen, einem von der Einheit abgetrennten Subjekt per definitionem nicht gelingen. Denn ‚frei ist niemand ausser Zeus‘, wie Aischylos in seiner Tragödie ‚Der gefesselte Prometheus‘ festhält.

Wenn wir versuchen, die Bildersprache der Antike in vertrautere Metaphern zu übersetzen, könnten wir sagen: Ganzheit, echte Autonomie, Freiheit in der Ordnung, kosmische Harmonie – all das ist nur in der Einheit vorstellbar. ‚Darunter‘ muss es Stückwerk bleiben. Natürlich sind diese Metaphern auch falsch, da jedes Bildnis, jeder Versuch, Gott, der Einheit Eigenschaften zuzuordnen, scheitern muss, da es sich ja gerade um das Unfassbare handelt, das Unbeschreibliche, das sich der Spaltungs-Erkenntnis entzieht und das erst durch die vollständige Vereinigung mit allem, was ist, erkannt werden kann. Und doch umkreisen wir ständig mit allen unseren Kommunikationsmitteln, mit unserer Kunst dieses letzte Ziel, auf das wir bewusst oder unbewusst zustreben, und das wir gerade deshalb immer wieder mit paradoxen Bildern, in Mythen und Legenden fassbar zu machen versuchen – im Wissen, dass es sich uns immer wieder entzieht und letztlich unbegreifbar ist.

Umgang mit Niederlagen

Das abgespaltene Subjekt muss also scheitern beim Versuch, sein eigener Gott, sein eigenes Gesetz, seine eigene Ordnung zu sein. Trotzdem versucht es jede gesunde Entität. Jeder, der seinen archetypischen Weg vom Werden zum Vergehen beschreitet, sprengt das ihn einengende Ei, versucht, alle freiheitseinschränkenden inneren und äusseren Fesseln und Hüllen abzustreifen, schreit der ihn gängelnden Welt sein „Nein!“, sein „Ich will selbst!“, sein „Ich will anders!“ entgegen. Jeder natürliche Entwicklungsweg führt über das Trotzalter und die Pubertät zum Versuch, ein Erwachsener mit grösstmöglicher Autonomie zu werden. Und obwohl wir alle vom ersten Augenblick an wissen, dass dieser Versuch spätestens mit unserem Tod zwingend scheitert, versuchen wir es immer wieder. Wir gehen allerdings verschieden um mit dem Scheitern. Der eine akzeptiert die Niederlage nicht einmal beim letzten Atemzug, kämpft bis zum Schluss unnachgiebig für seine Autonomie als Ego, der andere wirft bei den ersten Widerständen bereits die Flinte ins Korn und wird gar nie richtig erwachsen, erkämpft sich gar nicht die Voraussetzung für den Rückweg, für die freiwillige Einordnung. Der Dritte nutzt die Chance, sich nach dem redlichen Bemühen um die Autonomie als abgegrenztes Ich und mit der am eigenen Leib erfahrenen Einsicht in die Unvermeidbarkeit seines Scheiterns auf den Heimweg zu machen, die ausbalancierende Gegenbewegung einzuleiten und findet nach der Hybris des ‚Nein‘ zum ‚Ja‘ der Demut.

Midlife-Crisis

In dieser Funktion als Wendemarke, als Scharnier liegt die tiefe Bedeutung der Krise der Lebensmitte, die zu jeder archetypischen Entwicklung gehört. Das aus dem Griechischen stammende Wort ‚Katastrophe‘ heisst ursprünglich nicht mehr als ‚Umkehrpunkt‘, und eine Umkehr ist nur möglich, wenn man vorher in die andere Richtung ging. Diese Krise ist heilbringend und gehört richtigerweise zum archetypischen Weg von der Einheit in die Vielheit und wieder zurück in die Einheit. Jetzt kehren sich alle Vorzeichen um. Alles, was wir angerichtet haben, gilt es zurückzunehmen; was wir aufgebaut haben, einzureissen; was wir an äusserer und innerer Macht angesammelt haben, zu entäussern; die ganze Markanz, das Ich-Profil, für das wir ein halbes Leben lang gekämpft haben, aufzugeben. Es gilt durchlässig zu werden für alles Abgelehnte, Verabscheute. Und jetzt – erst jetzt schlägt die wirklich grosse Stunde der Vereinigungs-Erkenntnis, die alles mit Ratio und Schwert Getrennte wieder zusammenfügen soll. Alle vorher erlebten Augenblicke von Vereinigungs-Erkenntnis waren ‚Appetizer‘, Vorboten für das, was jetzt zum Hauptinhalt des reifenden Menschen wird auf seinem Entwicklungsweg, dem Weg aus den Verwicklungen aller einseitigen Identifikationen und Wertungen, den Versteifungen auf das ‚Nur‘ und das ‚Entweder-Oder‘.

Der ganze Prozess, der ganze Weg – so fürchterlich er manchmal für den Einzelnen sein mag – ist sinnvoll, erst das Begehen des ganzen Weges gibt dem, der ihn geht, die Würde, ein echtes Wesen, eine Entität, ein Subjekt zu sein, das diese Bezeichnung verdient. Die Erfüllung des Wegs liegt in der Einsicht in die Unbeständigkeit des Subjekt-Seins, in die Unmöglichkeit, den erstrebten Zustand der völligen Autonomie zu erreichen oder gar zu halten, in der Einsicht in die Not-Wendigkeit des Scheiterns und in der freiwilligen Einordnung in den Kosmos, in die Ordnung der Einheit. Abkürzungen funktionieren nicht nachhaltig.

Wer versucht, die erste Hälfte zu umgehen, zuhause zu bleiben, gar nie erwachsen zu werden, kommt nicht zu wahrer Demut. Gehorsam ohne Empörung ist nur Feigheit. Wer versucht, mithilfe bewusstseinsverändernder Substanzen künstlich und verfrüht ins Licht der Verbundenheit mit allem zu gelangen, mag im besten Fall einen motivierenden Blick aufs Ziel erhaschen; den Weg muss er trotzdem mit seinem unbenebelten Ich gehen, das sich mit allen Mitteln gegen seine Auflösung wehrt, kaum ist die Wirkung der grenzsprengenden Droge oder Technik verflogen. Verweigerungen, den Weg über die Mitte hinaus weiter zu gehen, führen zu immer neuen Runden: zurück auf Feld eins. – Aber auch das ist nicht weiter tragisch und braucht weder eine westlich-christliche Jammermiene noch eine östliche Karma-Drohung heraufzubeschwören, denn wir haben unendlich viel Zeit – Zeit ist im hier vorgestellten Welterklärungsmodell nur ein Hilfsparameter, ein Konstrukt, das es –zusammen mit dem Raum, unserem Ich und den Verknüpfungen zwischen allem Wahrgenommenen – genau solange gibt, wie wir es brauchen, um unseren Weg zu Ende zu gehen.

Der Tod als Höhepunkt des Lebens

Die dem westlichen Leser wenig vertraute Sicht des Todes als Höhepunkt, als Krönung des Lebens kann an dieser Stelle nicht mehr erstaunen. Wenn der archetypische Weg aus der Ununterschiedenheit der Einheit in die Subjekt-Objekt-Spaltung der Vielheit, der Physis führt, über die Spaltungs-Erkenntnis zur grösstmöglichen Autonomie, die zwingend scheitert, und dann über die Vereinigungs-Erkenntnis irgendwann ganz zurück in die Ununterschiedenheit der Einheit, so ist der Tod nichts anderes als der Übergang von einem Seins-Modus in den anderen. Aus der Perspektive der Vereinigungs-Erkenntnis ist es die Vereinigung mit allem, was ist, da wir das äussere und innere begrenzte Ich definitiv abstreifen. Dieser Vorgang birgt die Chance, ihn bewusst zu erleben, uns ihm freiwillig und bejahend zu stellen. Wir können auch in grosser Angst, ja Panik sterben, uns mit allen Mitteln dagegen wehren und unsere verbleibende Energie in den Kampf gegen den Tod stecken – anstatt in ein würdevolles, bewusstes, einverständliches Sterben. Das ist zwar eine verpasste Chance, aber insofern nicht weiter tragisch, als wir noch unzählige Gelegenheiten haben werden für einen bewussteren Tod. – Als Gleiche oder immer wieder Andere? – Als immer andere Gleiche oder, was dasselbe ist, als immer gleiche Andere.

Sinnvollerweise geht dieser Prozess genau so lange, bis wir die Subjekt-Objekt-Spaltung vollständig und bewusst überwunden haben. Und das ist genau dann der Fall, wenn wir die Vereinigungs-Erkenntnis in ihrer höchsten Form verwirklicht haben: die Vereinigung mit allem, was je war, ist und je sein wird. Dann sind wir wieder in der Einheit, dann sind wir wieder die Einheit. Die Frage, als welcher Ausschnitt des Ganzen, als welches Subjekt wir uns gerade vorfinden in unserer aktuellen Welt, ist dabei doch eher marginal. Sinnigerweise ist es immer ein Ausschnitt, den wir noch nicht kennen, eine Subjektrolle, die wir noch nicht spielten. Aber das sind bereits wieder Gedankenspielereien, die von einem Zeitkontinuum ausgehen, von einer linearen Zeitachse – Vorstellungen, die auch in Einsteins Weltmodell zu den Illusionen zählen.

Warum das Chaos?

Die Frage ist berechtigt. Wenn alles so wunderschön sinnvoll geordnet ist mit dem archetypischen Weg aller Entitäten mit all den richtigen und unerlässlichen Stationen – wieso denn all das Chaos, all der Wirrwarr? Die Antwort ist simpel: Die Entwicklungswege laufen weder synchron noch parallel. Weder die der Individuen noch die der Gemeinschaften. Denn über der Struktur der Einzelnen sind immer auch kollektive Strukturen auszumachen: Völker, Nationen, ganze Erdteile sind an verschiedensten Punkten des Entwicklungswegs. Die ‚Mutter aller Analogien‘ zeigt sich auch hier: Wie oben, so unten. Makrokosmos entspricht Mikrokosmos.

So wie es Gemeinschaften gibt, die in ihrer Gesamtheit die jugendlich-aufmüpfische Struktur der Trotzphase oder die rebellische Phase der Pubertät verkörpern, gibt es Nationen, die im Zenith ihrer Autonomie-Bestrebungen stehen und wieder andere, die sich auf dem Heimweg befinden, ihre Grenzen öffnen, Identitäts-Profil aufgeben, sich verbinden, ja vereinigen mit anderen Gemeinschaften. Jeder Zeitpunkt zeigt einen anderen Querschnitt durch diese Myriaden von individuellen und kollektiven Entwicklungsstrukturen, die verständlicherweise mit permanenten Konflikten auf allen Ebenen verbunden sind. Konflikt und Chaos gehören aber bereits auf der Ebene des einzelnen Individuums archetypisch und unvermeidlich zu diesem Weltbild. Der Konflikt ist nichts anderes als der Prozess, der durch die Subjekt-Objekt-Spaltung in Gang gesetzt wird. Der Abstand zwischen Subjekt und Objekt ist die Voraussetzung für die Auseinandersetzung, was nur ein anderes Wort ist für Konflikt. Der Krieg ist der Vater aller Dinge – Heraklits ominöser Satz, der jedem Friedenskämpfer das Blut in den Adern gefrieren lässt, kann vielleicht vor diesem gedanklichen Hintergrund besser verstanden werden. Die Sehnsucht nach ewigem Frieden, nach konfliktloser Ruhe ist verständlich, aber sie gehört archetypisch zum Heimweg, zur zweiten Lebenshälfte, zur Rückkehr in die Einheit. Und es steht niemandem zu, alle anderen Entitäten auf den eigenen Entwicklungsstand zu befehlen. Und wenn uns ein anderer in unserer vermeintlichen Friedlichkeit aufstört mit seiner Konflikt-Freude, dann ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass unser Friede noch kein echter ist, dass es da noch Schattenanteile zu integrieren gibt. Denn wir leben ja alle in unserer Welt, oder nicht?

Gibt es nun Gott?

Jetzt wird meine Antwort vielleicht verständlicher: ‚Es gibt…‘ ist mit Vorsicht zu geniessen. Ich will mich nicht an diese Angst-Formulierung klammern und versuche, die Realität, die die Einheit in meinem Welterklärungsmodell hat, anders auszudrücken: Ich erfahre, erlebe Gott, ich nehme die Einheit wahr. Wie? – Im Dialog mit allem, was ist. Im Zwiegespräch, das ich zur inneren Vereinigung, zur grenzauflösenden Verschmelzung zu steigern versuche. Wann? – Jetzt. Immer in Momenten höchster Präsenz, die sich genau dann ereignen, wenn der Dialog zur Vereinigung wird. Und ist das nun ein subjektives Privat-Erlebnis? – Ja und nein. Aussagen kann ich nur über mein subjektives Erlebnis machen. Aber mit jeder Entität, mit der ich einen solchen Moment höchster Präsenz erlebe, wird der Kreis der Erlebenden grösser. Und es gab und gibt Millionen von Entitäten, die genau das gleiche taten und tun: auf ihre Weise Einheit wahrnehmen, Jetzt-Zustände erleben. So gesehen, sind es unzählige vergleichbare Gottes-Erfahrungen, die – weitab von Institutionen, Glaubensgemeinschaften, Dogmen und missionarischem Eifer – das so private, so subjektive Erlebnis auch zu einem kollektiven, weltumspannenden machen. Doch die Quantität zählt nicht, da es nicht um Macht, nicht um Politik, nicht um Sieg einer Ideologie geht. Es geht um die Qualität des Entwicklungswegs, der die Spaltung überwinden will, eines Wegs, der archetypisch von der Abgegrenztheit des Subjekts in die Grenzenlosigkeit des kosmischen Kollektivs führt, das wir mit tausend Worthüllen wie Gott, Einheit, Kosmisches Bewusstsein, Selbst, Mitte, Tao, Brahman, Allah, Manitou, Nirwana benennen und doch nie dingfest machen können. Als einer, dem die Sprache ein wichtiges Hilfsmittel ist, muss ich eingestehen: Hier hilft sie nicht weiter. Wir können Gott erleben, aber sowohl Gott wie das Erlebnis entziehen sich letztlich dem rationalen Diskurs – und das ist gut so.

Die Diskussion ist so alt wie die Menschheit. Aber auch wenn Sie nicht aus dem Holozän stammen, dürfen Sie sich auf alle Arten am Diskurs beteiligen, auch suprarational. Lassen Sie sich von Ihrem göttlichen Funken inspirieren, auch das fällt unter ‚Denken‘, sogar viel zentraler als eng rationales Kausalkettchen-Knüpfen. Aber viele haben diese Denk-Aufgabe aufgegeben, bevor sie sie gelöst, verstanden, ja sich der Aufgabe überhaupt gestellt haben. Wenn ich nur einen einzigen anstossen kann, sich auf seine Art mit dem Thema auseinanderzusetzen, hat sich mein paradoxer Versuch gelohnt, mich sprachlich mit dem Unsagbaren, rational mit dem Suprarationalen, polar mit der Einheit auseinanderzusetzen.

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2 Comments

  1. Avatar marpa

    Ute

    Amo ergo fui, das reicht. Ausserdem hast Du es so geschrieben,wie ich es nie konnte und nie können werde. Egal in der Beschränkung liegt die Erkenntnis.
    Und das beste gegen welche Ängste auch immer und dem Leben so zugewandt wie es nur möglich ist.
    Manchmal ist Schreiben Gold und nicht Schweigen.

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