oder
«Dekadenz ist machbar»
Sind die Vielen im ‘Korb der Bejammernswerten’ vor allem dumm, faul, feige, bedürftig, unselbständig, unmündig, nicht fähig, Eigenverantwortung zu tragen – und brauchen deshalb allüberall den von den Wenigen geleiteten Fürsorgestaat? Oder haben grundsätzlich alle das Potenzial klug, fleissig, mutig, gut ausgestattet, selbständig, mündig und eigenverantwortlich zu sein oder es zu werden – und brauchen deshalb vor allem Freiheit, Gestaltungsmöglichkeiten und den individuellen Freiraum, in dem sie sich als einzigartige Wesen verwirklichen können?
Es ist die Urfrage nach dem Menschenbild, die jede Form von Kollektivbildung prägt. Millionen von Menschen sind eines unnatürlichen Todes gestorben in der von uns zurzeit überblickbaren Vergangenheit, weil diese beiden extrem divergierenden Menschenbilder nicht als Annahmen, als Hypothesen, als Möglichkeiten analysiert und debattiert, sondern als dogmatische absolute Wahrheiten benutzt wurden, um darauf ideologische, religiöse, ökonomische, ökologische Strukturen zu errichten.
Die ‘Wissenschaft’ wurde dabei gern als Deckmäntelchen eingesetzt, um einen qualitativen Unterschied zwischen ‘glauben’ im Sinne von ‘für wahrscheinlich halten, meinen, annehmen’ einerseits und ‘wissen’ im Sinne von ‘etwas als absolut, für alle und für immer wahr, gesichert und unwiderlegbar beweisen können’ zu suggerieren. Dabei war und ist der Unterschied immer nur ein gradueller, quantitativer. Behauptungen, Thesen, Meinungen, Annahmen, Prinzipien, Grundsätze, Gesetze, Regeln unterscheiden sich nur im Masse ihrer Plausibilität, die mit den aktuell gerade zur Verfügung stehenden Mitteln stützbar, nachweisbar ist. Wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, wurden auch die für unumstösslich gehaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse immer wieder falsifiziert, abgelöst durch plausiblere, einleuchtendere, argumentativ besser gestützte Thesen.
„Einstein sagte, die Welt kann nicht so verrückt sein, wie uns die Quantenmechanik dies erzählt. Heute wissen wir, die Welt ist so verrückt.“ – Daniel Greenberger
Am schönsten lässt sich dies in der Quantenphysik und der Astrophysik zeigen, wo der Rhythmus der Ablösung der gerade für am plausibelsten gehaltenen Theorien recht hoch ist. Mit diesem Bewusstsein der Vorläufigkeit jeder menschlichen Erkenntnis braucht man sich nicht mehr den Kopf abzuschlagen wegen unterschiedlicher Beurteilung irgendeiner Behauptung. Es reicht vollauf, die Argumente zu gewichten, die Plausibilitäten zu vergleichen – und sich dabei stets bewusst zu bleiben, dass auch dieser Prozess keinen Anspruch auf Objektivität oder gar absolute Gültigkeit hat.
Wir können Modelle entwerfen und innerhalb dieser Modelle Regeln setzen, die den Mitspielern im Modell erlauben, zwischen ‘richtig’ im Sinne von ‘regelkonform’ und falsch zu unterscheiden. Diese Entscheidung gilt immer nur innerhalb des Modells und hat mit absoluter, ewiger, unverrückbarer Wahrheit nichts zu tun. Sport, Spiel und alle Rechststaaten sind Beispiele für solche Modelle, was sich auch an der Änderbarkeit der Regeln und Gesetze zeigt.
Die meisten Religionen und Ideologien sind Gegenbeispiele, die ihre eigene Doktrin zur für alle gleichermassen zwingend gültigen absoluten Wahrheit hochschrauben. Wie unsäglich lächerlich, hirnrissig und dumm das ist, zeigt in der Gegenwart vor allem der Islamismus. Aber wenn wir ein paar hundert Jahre zurückblicken, war die christliche Religion von durchaus vergleichbarer Impertinenz und Lächerlichkeit. Ich wage sogar die These, dass der zweitausendjährige und bis heute immer noch glimmende Antisemitismus primär auf der historisch völlig absurden Furzidee beruht, die Juden hätten ‘Gottes Sohn’ umgebracht. Erstens war die Justiz in den Händen der römischen Besatzungsmacht, zweitens ist es m.E.mit der Plausibilität der Behauptung, der durchaus interessante Prediger mit seinen recht esoterisch anmutenden Ideen sei ‘Gottes Sohn’ gewesen, nicht allzu weit her. Nicht, dass man das nicht behaupten dürfte. Man darf das genauso, wie man die jungfräuliche Empfängnis oder das ptolemäische Weltbild mit der Erde als Scheibe promovieren darf. Man darf alles behaupten, aber man darf sich einfach nicht wundern über die Schwierigkeiten, die sich beim Versuch ergeben, mit guten Argumenten die Plausibilität seiner Behauptung zu stützen.
Das arroganztriefende Menschenbild Hillarys
Mit diesem Vorspann können wir uns jetzt auf die eingangs gestellte Frage stürzen, welches der beiden Menschenbilder denn nun plausibler sei, Hillarys ‘Korb der Beheulenswerten’, die der Führung und Anleitung – am besten natürlich ihrer Führung und Anleitung – bedürfen, oder das ultraliberale, vielleicht etwas gar optimistische Bild vom mündigen, denkfähigen und denkwilligen, selbständigen, eigenverantwortlichen Helden. Am besten fangen wir bei uns selbst an und versuchen herauszufinden, wo wir eher beheulenswert und wo eher heldenhaft sind, und wie sich die Gewichte dieser beiden Bereiche vielleicht geändert, entwickelt haben in unserer bisherigen Biographie. Es könnte aber auch sein, dass wir uns zu den ‘Wenigen’, den ‘happy few’, den Hillarys zählen, die sich berufen wähnen, die Beheulenswerten anzuleiten und zu führen? Denn Hillary hat ganz offenbar ein gespaltenes Menschenbild: Es gibt die Bejammernswerten unten, die Massenmenschen, die Nietzscheschen ‘hoi polloi’, die von den Klugen, den Führern, den Anleitern, der Elite oben, zum Brunnen, zum Heil, ins Paradies geführt werden.
Etwas widersprüchlich scheint mir, dass genau diejenige Ideologie, die die Gleichheit aller Menschen predigt, kollektive Strukturen promoviert, die das Gegenteil implementieren, die eine klare Trennung, Schichtung, ja ein Kastensystem installieren: unten die ‘Unberührbaren’, die Beheulenswerten, oben die ‘Brahmanen’, die Wissenden, die Führenden. Dieser Widerspruch scheint mir eines der stärksten Argumente gegen das Hillary-Menschenbild zu sein.
Die Ultraliberalen hingegen haben ein völlig konsistentes Menschenbild. Da gibt es kein oben und unten, keine Massen und Eliten. Es gibt nur vielfarbige Verschiedenheit. Die Gleichheit der Menschen im ultraliberalen Menschenbild besteht witzigerweise in ihrer Einzigartigkeit: alle sind gleichermassen einzigartig. Alle können, alle dürfen so einzigartig sein, wie es nur irgendwie geht. Aber auch dem so schön klingenden ultraliberalen Menschenbild der eigenverantwortlichen Helden können wir Argumente entgegenhalten. Erstens kommen wir als völlig hilflose, bedürftige, hochgradig unselbständige Frühgeburten zur Welt, zweitens bleiben körperlich oder geistig Behinderte oft lebenslänglich hilfsbedürftig, und Kranke, Schwache und Alte werden es, drittens verdirbt die zum Liberalen untrennbar dazugehörende Eigenverantwortung das Lieblingsspiel der Menschheit: die Schuldprojektion. Der Verlust dieses Spiels ist derart unattraktiv, dass es viele an sich ‘Heldfähige’, zur Täterrolle Bereite letztlich doch zurückwirft ins kuschlige Körbchen der bemitleidenswerten Opfer.
Man stelle sich die weltweite Stille vor auf allen Kommunikationskanälen, wenn jeder alles, was er wahrnimmt, eigenverantwortlich zu sich nähme und niemand niemandem mehr Schuld zuwiese. Macht den amüsanten Test und entfernt aus Nachrichten, Zeitungsberichten, aus dem Gelafer von Moderatoren, Nachbarinnen und natürlich euch selbst sämtliche Schuldzuweisungen. Meine These: es bleibt ganz wenig, ein paar Krümel, aber die könnten aufklaubenswert sein. Fazit: auch das Bild vom jederzeit mündigen, autarken Helden hat ein paar Risse, ist mutmasslich zu schön, um wahr zu sein.
Die Gretchenfrage lautet: Welches Menschenbild wollen wir als Ziel hinstellen, anstreben, mit pädagogischen Mitteln fördern? Hillary und ihre Gesinnungsgenossen positionieren sich ganz klar. Solange sie zu den Wenigen, zur Elite gehören, brauchen sie einen überquellenden Korb voller Beheulenswerter, die sie führen, anleiten, mit ihrer Fürsorge überschütten, beglücken – und durch dieses Engagement für die Beheulenswerten ihre Position als Elite immer wieder nachhaltig stärken können. Die allfällig daneben noch existierenden Selbständigen sind für die Hillarys grundsätzlich störend, lästig. Man muss sie entweder umstricken und in die Elite aufnehmen oder marginalisieren. Ganz ausrotten wollen sie auch die Hillarys nicht, da es leider Gottes genau diese Eigenverantwortlichen, diese abenteuerlustigen, risikofreudigen Unternehmer, diese kreativen Spinner sind, die das nötige Kapital erwirtschaften, das die Hillarys dann mit segnender Hand umverteilenderweise über den Häuptern der Bemitleidenswerten ausschütten. Man muss diese rastlos Emsigen wie Drohnen im Bienenstaat halten. Sie sollen ihre Funktion erfüllen, nämlich Hillarys Korb-Kassen ausstatten, im übrigen sollte man sie vom Kollektiv möglichst fernhalten.
Das klappt recht gut, denn die Ultraliberalen sind gar nicht so interessiert am Kollektiv, haben gar nicht die Hillarysche Macht- und Führungsgier. Sie wollen ihr Ding machen und – klar – den Freunden auch mal zeigen, was sie wieder Verrücktes erfunden, erschaffen, gezaubert haben. Und mit anderen Spinnern im Team was machen, im Orchester, in einer Mannschaft, das schon – aber das riecht für den Ultraliberalen weder nach Masse noch nach Elite, sondern nach Dingen, die man eben nur zusammen machen kann, wie zum Beispiel einen Orchesterklang.
Wir könnten uns aber auch entscheiden, uns in Richtung Mündigkeit, Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Klugheit, Fleiss, Kreativität und durchaus auch Richtung Dissidenz und Humor zu entwickeln. Dissidenz, alles hinterfragen, anderer Meinung sein, kann – zugegeben – sehr anstrengend sein. Aber es führt zu immer neuen Erkenntnissen. Denkt an die Debatten zwischen Bohr und Einstein, oder an die heutigen divergierenden Theorien über schwarze Löcher. Von Einigkeit keine Spur. Zum Glück, finde ich. Und Humor, vor allem auch Selbstironie, ist eines der untrüglichsten Symptome dafür, dass man weder zu den Beheulenswerten gehört noch zur ständig verzweifelt an ihrer Machterhaltung arbeitenden Kaste der ‘Wenigen’.
Auf die Gefahr hin, dass die folgende These etwas die angeregte Heldenstimmung versaut, behaupte ich: Dekadenz ist machbar.
Denndie Promovierung eines der beiden Menschenbilder hat einen direkten Einfluss auf seine praktische Relevanz – und die Relevanz, die Akzeptanz, die Verbreitung eine Menschenbildes ist auch sowas wie eine Form von ‘Richtigkeit’ – , sit hat abeer auch Einfluss auf seine argumentativ stützbare Plausibilität. Hier hilft wieder die Quantenphysik und Dürrenmatt: Der Beobachter verändert das Beobachtete durch seine Beobachtung. Konkreter gesagt: wenn die Hillarys dieser Welt im Chor mit Schulen, Universitäten, Medien, Filmemachern, Schriftstellern, Popen und Polit-Laferis allen Guckenden und Lauschenden einbleuen, dass sie bejammernswerte Opfer seien, dann wächst der Korb der Beheulenswerten quantitativ und qualitativ. Es werden nicht nur immer mehr, die sich zur ‘Generation Opfer’ zählen, sie schreien auch immer lauter nach Hilfe, lassen sich immer stärker in die Bedürftigkeit fallen und sorgen so dafür, dass am Schluss tatsächlich die Mehrheit der Menschheitsbevölkerung aus Opfern besteht, zumindest aus sich als Opfer Fühlenden. Je mehr es sind, desto überzeugender, plausibler, ‘richtiger’ wird Hillarys Menschenbild. Irgendwann glaubt eine Mehrheit der Menschheit an den ‘Basket of Deplorables’ und hat nur noch ein verhärmtes Kopfschütteln übrig für die alten Heldengeschichten. Manchmal beschleicht mich das ungute Gefühl, dieses ‘irgendwann’ sei bereits ‘jetzt’.
Nun hoffe ich auf Feedbacks, die mir klarmachen, dass wir uns keineswegs auf einer eingeseiften Rutschbahn korbwärts befinden und dass sich der Versuch immer noch lohnt, sich und andere zum Abenteuer von Freiheit, Mündigkeit, Selbständigkeit und Eigenverantwortung einzuladen, zu kreativer Dissidenz und homerischem Gelächter.
ute
Rutschbahnen muss man erst erklimmen um sich dann auf die eingeseifte Abwärtsfahrt zu begeben.
Um sich aus dieser Abwärtsfahrt zu befreien bedarf es eines mutigen Eingreifens. Eingreifen in die Seiten , das gibt Blessuren an den Händen. Dann rausgesprungen aus dieser Bahn, der Aufschlag wird auch Schmerzen und weitere Blessuren verursachen.
Die Blessuren sind den Preis wert.
Aufstehen, auf den eigenen Füssen aufrecht den eigenen Weg gehen.Auch wenn man erst ein wenig unrund humpelt, es wird. Man kann sich einlaufen.