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Alle waren sie da, die gewaltigen Mockodile, die herabpolternden Brockodile, die dauerentsetzten Schockodile genauso wie die nussig-cremig-milchigen Schokodile, die ausgedörrten Trockodile, die lärmig stampfenden Rockodile, die spielsüchtigen Zockodile, die nilaufwärts segelnden Fockodile,

die jeden blinden Passagier wegkatapultierenden Bockodile, die nicht aus dem Gleis zu hievenden Lokodile, die jeden Angreifer ins Out boxenden Nockodile, die sich leise anschleichenden Sockodile, die gelben Gekodile, die blondgelockten Lockodile und sogar die bleichweichen Woke-Odile. Alle lauerten sie am grossen Weihnachtsteich auf die Bescherung.

Mitten im Teich war eine grosse Rundbühne aufgebaut. Doch statt der erwarteten Highlights materialisierte sich mitten auf der schwimmenden Fläche ein graugewandetes, hochgewachsenes Stockodil und wandte sich trauerumflorten Gesichts an die versammelten Odile aller Arten:

«Liebe Mit-Odile, ich bin betrübt, euch mitteilen zu müssen, dass das in Aussicht gestellte grosse W…-Event leider nicht stattfinden kann, da es offenbar das Wohlbefinden einzelner Nicht-Odile beeinträchtigen könnte und damit bestimmt auch würde. Es ist keine kleine Minderheit, nein, es sind Millionen von Nicht-Odilen, die unsere Freude nicht teilen, die wir seit Jahrhunderten an unserem jährlichen Traditionsfest verspüren, das ich nicht einmal mehr explizit benennen darf. ‘W…nacht’ ist ab sofort nur noch das ‘W-Wort’. Ihr kennt das grassierende System von vielen anderen Wörtern wie dem ‘N-Wort’, das keineswegs für das ernährungspolitisch verfemte ‘Nutella’ steht; ihr kennt es vom ‘M-Wort’, das sowohl für ‘Mohr’ stehen kann, die früheren Bewohner Mauretaniens, wie für ‘Mutter’, bis vor kurzem die liebevoll-dankbare Bezeichnung für die Frau, die uns geboren hat.

Nur Gottodil weiss, warum diese beiden Wörter bei Nicht-Odilen mit zarterer Haut, als wir sie haben, ein derart panikartiges Unwohlsein auszulösen vermögen, dass hohe Bussen oder Gefängnisstrafen diejenigen treffen, die sich nicht an die Sprechverbote halten.

Das berühmte Singodil aus der Moskwa, das wir für euch engagieren wollten zur Umrahmung unserer Feier, wurde von der allmächtigen Zentrale leider wieder ausgeladen, da Verwandte von ihr offenbar in den Gewässern des Dnjepr Mundraub begangen haben sollen. Auch die zum ‘W-Wort’ gehörende ‘W-Geschichte’, die wir euch wie jedes Jahr vorlesen wollten, ist per Schnellbeschluss verboten worden, weil – ihr kennt sie ja alle – in der Geschichte nur Männer, Frauen und Kinder vorkommen und rein gar nichts – Nemo-Niente! – dazwischen. Kommt dazu, dass dem Neugeborenen – tragischerweise ja damals ein Junge – nicht einmal angeboten wurde, rechtzeitig ein Meitli zu werden.

Das Bild der glücklichen Familie – ich wage es trotz Verbot und zeige es kurz – konnten wir auch nicht mit einer schönen Krippe inszenieren auf der Bühne. Der entschlossene Kampf gegen RECHTS lässt es nicht zu! Wenn ihr genau schaut, dann sind sowohl Maria, die ‘M…’ Gottes, wie die Kuh, und sogar der blaue Schmetterling rechts im Bild, wo sie einfach nicht sein dürfen. Wenn wir, wie gefordert, eine Brandmauer durchs Bild ziehen, würde ja das heilige Wesen, mithin das Wesentliche, das ‘Christkindli’ in der Mitte durchtrennt! Aber es darf eben heute gar keine rechten Bildhälften mehr geben. Die sollen abgeschafft werden wie die Rechtschreibung, die ja von den heranwachsenden Generationen bereits erfolgreich zum Verschwinden gebracht wurde. Das mit der kompromisslosen Vernichtung rechter Bildhälften ist schwieriger, weil immer, wenn man die rechte Hälfte wegschneidet, entsteht eine neue rechte Hälfte – der Kampf scheint aussichtslos! Deshalb stehe ich jetzt auch allein auf der Bühne, so dass weder ich noch jemand anders rechts vom andern sein und damit zum Bösen gestempelt werden kann.

Auch die W…-Lieder, wie wir früher gemeinsam hier am Teich gesungen haben, sind alle verboten. ‘O du fröhliche…’ stürzt alle Unfröhlichen – und deren sind Viele! – noch tiefer ins Elend. ‘Stille Nacht…’ – ein Widerspruch in sich selbst für verdichtet in Ballungsräumen Lebende und damit ein No-Go für alle. Dabei liess die grosse ‘N-Sängerin’ Mahalia Jackson früher den Urwald erbeben mit diesem Lied. Und der riesige ‘W-Baum’, den wir früher so reich schmückten und mit Lichtern versahen, steht heute unter Verdacht und darf nur noch als ‘extrem beleuchtetes Nadelgehölz mit Religionshintergrund’ bezeichnet werden.

Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns all das vor dem inneren Auge vorzustellen, uns die ‘W…-Geschichte’ selbst zu erzählen, die ‘W…-Lieder’ ohne Ton im Innern zu hören,  bis wieder bessere Zeiten anbrechen. Uns Odile gibt es ja seit über 200 Millionen Jahren. Wir werden auch diese dunkle Zeit überstehen!», versuchte das Stockodil seine Brüder und Schwestern zu ermutigen.

Wie wenn sie es nicht gehört hätten, begannen sich die versammelten Odile zu bewegen, zu singen, sich die Weihnachtsgeschichte in tausend Dialekten zu erzählen, zu toller Negermusik zu tanzen, auf die Bühne zu springen, ihre Mütter, alle Mohren und Zigeuner hochleben zu lassen, gewagte Odil-Akro zu zeigen und lachend «Alles für Odiland!» zu rufen. Die Stimmung wurde immer ausgelassener, immer mehr Tiere des Urwalds gesellten sich zu den Odilen, und es wurde das verrückteste Fest des Jahres, bei dem immer wieder auf die nächsten 200 Millionen Jahre angestossen wurde.

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