Share this post on:

Wer will sich diese ‚Erkenntnisleiter‘ schon antun…

Wieso denn das? ‘Zufall’ ist doch ein vergnügliches Etikett, mit dem sich langes Rumrätseln vermeiden, an den Haaren herbeigezogene Erklärungsvarianten elegant vom Tisch wischen, aber auch hinterhältige Absichten verstecken und – bei eher üblen Ereignissen – Verantwortung abschieben lässt. Psycho-Sozio-Linguisten werden zudem unschwer bestätigen, dass das Wort ‘Zufall’ bzw. all seine Synonyme in anderen Sprachen ungemein häufig, ähnlich wie ‘fuck’ oder ‘shit’, verwendet werde und damit bewiesenermassen ungemein wichtig, ja unverzichtbar sei, und deshalb – wie die erwähnten ebenfalls ungemein häufig benutzten und damit unverzichtbar wichtigen Beispiele – , nicht ohne schwerwiegende Folgen für die Alltagskommunikation ‘zu Fall’ gebracht oder gar verboten werden dürfe. – Ok, Kompromiss: ich bringe den Zufall mit dem simplen kleinen Essay natürlich nicht vollständig zu Fall, er stürzt nicht in den Hades. Ich möchte ihn nur vom Sockel schubsen, auf den ihn renommierte Naturwissenschaftler gehoben haben und ihm mithilfe des im Deutschen sich anbietenden Wortspiels eine neue, tiefere Bedeutung geben: Zufall ist das, was uns zufällt. Sinnvollerweise zufällt, wie ich zu ergänzen mich erfreche. Davon handeln die acht folgenden Thesen.Zur Erinnerung: eine These ist eine Behauptung, die der Behauptende mit Argumenten wahrscheinlich, plausibel, einleuchtend, oder zumindest interessant, anregend und sinnvoll zu machen versucht. Eine These ist eine ‘Setzung’, eine Annahme, die auf ihren Plausibilitätsgehalt abgeklopft wird und der selbstverständlich widersprochen werden darf, ja soll, ja muss, um bestenfalls auf der Erkenntnisleiter ein klitzekleines Trittchen höher kraxeln zu können.

These 1: ‘Zufall’ ist ein Euphemismus für ‘Ich bin überfordert’

Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen…

Und ‘überfordert’ ist ein Euphemismus für ‘denkfaul’. Wer von ‘Zufall’ spricht, gibt damit nur zu verstehen, dass er bei irgendetwas nicht durchblickt, dass ihn eine Wahrnehmung, ein Ereignis auf dem falschen Fuss erwischt hat, dass er etwas nicht vorhergesehen hat, sein Eintreten weder herbeiführen noch verhindern noch kontrollieren, aber auch ex post nicht deuten kann oder – nicht zu deuten gewillt ist. Wer beim Verdikt ‘Zufall’ aufhört oder schon gar nicht beginnt mit einem Deutungsversuch, zeigt damit m.E. Selbstherrlichkeit und Arroganz. Er geht davon aus, dass wenn ER die als zufällig bezeichnete Wahrnehmung, das Ereignis weder versteht noch deuten kann, dass es dann auch niemand anders kann, ja dass es dann keine Verständnismöglichkeit, keine Deutung geben kann. Er macht damit das, was alle geistig bescheidenen Menschen machen: Er verwechselt dieses Vorurteil mit einem endgültigen, unumstösslichen Urteil und macht sich nicht einmal Gedanken darüber, dass er kein einziges endgültiges, defintiv für immer und absolut richtiges und wahres Urteil nennen kann.

These 2: Bislang sind nur Vorurteile bekannt. Kein einziges Urteil hat sich bislang als unumstösslich, als absolut wahr und richtig erwiesen.

Karl Popper ahnt schon, dass Leute kommen werden, die seine These von der Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen zu falsifizieren versuchen…

Das Merkmal wissenschaftlicher Aussagen ist ihre Falsifizierbarkeit. Diese Erkenntnis von Karl Popper hat sich in der Wissenschaftsgeschichte zumindest bis heute bestätigt. Auch an der vermeintlichen Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit wird schon fröhlich rumgewerkelt. Sowohl die Tertium-non-datur und die Identitätsbehauptung von Aristoteles kann heute jeder erstsemestrige Philosophiestudent falsifizieren. Unsichere, orientierungshungrige und dumme Menschen tun sich schwer damit, dass alles, was sie zu erkennen glauben, was sie als vermeintlich ‘sicheres Wissen’ verinnerlicht haben, sich bei genauerem Hinsehen als vorläufiges Vorurteil, als ‘Stand des heutigen Irrtums’ erweist. Für geistig bewegliche, neugierige, kluge und erkenntnishungrige Menschen hingegen ist gerade die Tatsache, dass nichts unumstösslich ist, dass sich bislang nichts, aber auch gar nichts als ewig gültige, absolute Wahrheit entpuppt hat, eine ungemein starke Motivation, weiter zu forschen, den gerade aktuell als Goldstandard geltenden wissenschaftlichen Thesen neue, plausiblere entgegenzustellen. Gerade diese Offenheit der Erkenntnis turnt gescheite Menschen an, weiter zu suchen, den gängigen Deutungen neue hinzuzufügen, Sackgassen des Forschens und Denkens kenntlich zu machen und Ausgänge daraus zu entwerfen.

These 3: ‘Ich weiss, dass ich nichts weiss.’

Viele wissen, dass sie nichts wissen – aber Sokrates gibt es zu

Sokrates Dictum ist zwar weltbekannt, aber nur ganz wenige haben es verinnerlicht. Sein Umgang mit dem Verb ‘wissen’ zeigt, dass wir ‘glauben’ und ‘wissen’ genau verkehrt herum verwenden in der Alltagssprache. Da wird ‘glauben’ meist etwas herablassend als ‘annehmen, vermuten’ erklärt, ‘wissen’ dagegen als ‘gesichert, wahr, richtig’ und damit als wichtiger, bedeutender, verlässlicher geadelt. Dabei ist es genau umgekehrt. Die Wissenschaft ‘glaubt’, nimmt an, vermutet, stellt Thesen auf, falsifiziert. Und es sind die Nichtwissenschaftsbereiche, allen voran Ideologie und Religion, die zu ‘wissen’ behaupten und Falsifizierungsversuche verbieten, unter Strafe stellen, locker auch unter Todesstrafe. In der Inquisition war jede Aussage gegen das offizielle Dogma der Kirche – was ja einem Falsifizierungsversuch gleichkam – Grund genug für Bann und Mord. Und wer heute laut kundtut, dass Mohammed Analphabet war, dass auch Zeus und Manitou und nicht nur Allah gross bzw. ‘akbar’ seien, schmälert seine Chancen auf ein natürliches Ableben ungemein. Genauso sind v.a. in Deutschland, den USA und immer mehr auch in der Schweiz alle gefährdet, die es wagen, die absolute Wahrheit der Behauptungen der gerade herrschenden, sektenartigen Ideologien des Klimawahns, des Wokeismus, des Genderwahns, der Cancel Culture etc. in Frage zu stellen, ja nur schon darüber zu lachen. Gerade mit ihrer Zensur, mit ihrer fanatischen Unterdrückung der Meinungsfreiheit entpuppen sich alle diese Strömungen als Ideologien. Kurz zusammengefasst: Wissenschaftler wissen, dass sie glauben. Ideologen hingegen glauben, zu wissen.

These 4: Ideen sind wunderbare Debattierstoffe – Ideologien hingegen sind Erstarrungen mit Neigung zur Gewaltanwendung gegen Nichtmitmachende, und haben sich bislang durchwegs als dumm erwiesen. Witzigerweise zeigt sich bislang nur der Mensch als ideologieanfällig, was ihn aus meiner Sicht zur dümmsten aller derzeit auf Erden existierenden Entitäten macht.

Auch die Idee des Zufalls ist durchaus debattierwürdig. Ein Argument, das für das gängige Konzept des Zufalls als ‘unvorhersehbares Ereignis’ spricht, ist die von Vielen als tröstlich, entspannend empfundene Wirkung der Illusion, eine Frage sei gelöst und man müsse sich nicht weiter darum bemühen. Denn in dem Augenblick, da etwas als Zufall etikettiert wird, gehen vor allem die weniger Denkfreudigen gern flugs zum nächsten Thema oder zur nächsten Tätigkeit, die sich vielleicht als weniger herausfordernd, weniger rätselhaft, weniger anstrengend erweist. Sobald die Idee oder das Konzept des Zufalls als ‘unvorhersehbares Ereignis’ zu einer Ideologie erstarrt, die keine andere Deutung zulässt, stecken wir im Sumpf der Dummheit fest. Wir könnten ‘Dummheit’ zumindest für diesen Text sogar so definieren: ‘Dumm ist, wer die Interpretation irgendeiner Wahrnehmung, irgendeines Ereignisses, für absolut, unumstösslich und einzig wahr hält. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine eigene Interpretation oder um eine übernommene handelt. Wer einen absoluten Anspruch erhebt, verlangt von allen anderen Entitäten, seine Interpretation ebenfalls als die einzig wahre zu anerkennen. Damit ist klar, dass für mich alle Fanatiker, alle mit ihrer Ideologie unter Anwendung von Gewalt Missionierenden das Kriterium der Dummheit voll erfüllen. Am besten lässt man sie in betreuten, aber geschlossenen Wohnheim-Anlagen weiterspielen. Die Vorstellung, wie Nancy Faeser im Verkehrsgarten gegen Rechtsfahrende die Todesstrafe ausspricht, die dann von «Allahu akbar!» schreienden Kopftuchbartlis mit Blätterteig-Sprengstoff sofort umgesetzt wird, alles im lauschig umzäunten Anstaltspark, entbehrt nicht eines gewissen Charmes.

Aus Datenschutzgründen haben wir anstelle der Bundesinnenministerin hier eine hübschere Insassin abgebildet

These 5: Selbstverständlich darf man ein rein materialistisches Weltbild haben und in Platons Höhle hocken bleiben. Aber dann gelangt man nie über die Kausalkette in die Vergangenheit, über das ‘wie kam es dazu’ hinaus, bleibt in der Rückwärtsschau stecken, kommt nie in die lebens- und zukunftsrelevante Hermeneutik, findet weder Bedeutung noch Botschaft noch Sinn des rein materiellen Geschehens und bleibt bestenfalls staunend, aber letztlich ziemlich stumpf vor dem Zufall sitzen.

Platons Höhlengleichnis (zu finden am Anfang des 7. Buches des Dialogs ‚Politeia‘)

Abgesehen davon halte ich dieses Weltbild für langweilig, engstirnig, von Mutlosigkeit zeugend und – vor allem – für überholt. Im streng materialistischen Weltbild gibt es keine Hermeneutik und keine causa finalis, keine Sinnsuche. Da wird nur die materielle Kausalitätskette verfolgt, die causa efficiens, die Wirkursache beachtet. Und wenn die nicht lückenlos aufgedeckt wird, redet der Materialist gern von Zufall oder – es klingt etwas schlauer – von ‚ergebnisoffen‘. Für ihn ist Zufall die Nichtvorhersehbarkeit und er kommt gar nicht auf die Idee, zu inkompetent, zu scheuklappenbewehrt oder schlicht zu dumm zu sein, um diesem von ihm als Zufall apostrophierten Ereignis ein paar Geheimnisse zu entreissen. Das Steckenbleiben im materialistischen Weltbild ist durchaus nachvollziehbar. Einerseits als Folge der Jahrhunderte dauernden, mit letzter Brutalität durchgesetzten Ideologie der Kirche mit ihrem absurden Anspruch, was der Papst ex cathedra sage, sei per se die absolute, ewig gültige Wahrheit. Dass dieser Schwachsinn eine sich mitunter als übertrieben erweisende Gegenreaktion in Form der Vergötterung einer materieorientierten Rationalität provozierte, ist verständlich. Das zweite Argument für das Steckenbleiben im Materialismus ist der beeindruckende Fortschritt von Naturwissenschaft und Technik in den letzten 150 Jahren, und parallel dazu das mickrige Resultat geisteswissenschaftlicher Bemühungen in derselben Zeitspanne. Man könnte mit Fug sogar von einem Stehenbleiben oder einem Rückschritt des ‚Geistigen‘ sprechen. Die verbliebenen Spuren von Geisteswissenschaft stellen sich heute verschämt hinter die Naturwissenschaft. Die aristotelische Ordnung, bei der die Philosophie die alle anderen Wissenschaften umfassende erste Wissenschaft war, erntet bestenfalls noch ein Kopfschütteln. Zeitgenössische Philosophie ist zu geschwätziger, häufig von Regierungen bezahlter Stützung der gerade aktuell herrschenden Ideologien verkommen, Psychologie ist, wo sie nicht zu läppischer Gefühls-Statistik verblödet ist, bei Freud stehengeblieben, der es bei der Erforschung der Liebe nicht über das Niveau eines minderwertigen Sexualberaters, dafür aber zu einem der glänzenden Sargnägel der Eigenverantwortung gebracht hatte, die Theologie zur anpässlerischen, der gefühlsdusslig feminisierten Generation hinterherhechelnden Soziologie des Wohlbefindens; und Geschichts- und Literaturwissenschaften schliesslich sind zu dauerzensierten, permanent in Anpassung an die sie finanzierenden Regierungen befindlichen Stufenleitern auf dem Weg in den Totalitarismus hinabgesunken. Falls man Kunst im weitesten Sinne mitsamt der Musik und der Architektur auch zum ‚geistigen Output‘ einer Zeit rechnet, ist die Dekadenz im Sinne eines ‚Herabfallens‘ mit Händen zu greifen und macht die Flucht ins Materielle – noch nie wurde soviel Geld umgesetzt für ‚Kunst‘ wie heute – und die Flucht in die Vergangenheit verständlich.

Soli deo gloria – Originalnotenschrift von Johann Sebastian Bach

Dieser ‚Run‘ ins Materielle, Technische, Anfassbare, Steuerbare und Kontrollierbare bleibt aber dennoch aus meiner Sicht eine Sackgasse. Es entbehrt nicht der Ironie, dass die Sprengung des rein materialistischen Weltbildes sich in der Naturwissenschaft, genauer: in der Quantenphysik anbahnt. Die lauschende Gemeinde scheint das Knistern der Zündschnur bislang noch kaum wahrgenommen zu haben, obwohl es mit dem österreichischen Forscher Anton Zeilinger ein jüngst mit dem Nobelpreis Geehrter ist, der die für mich bahnbrechende Vermutung äusserte, dass der Grundbaustein des Universums möglicherweise gar nicht Materie, sondern Information sei. Mit dieser These wird Materie wieder das, was sie für Platon und ihm diesbezüglich Nachfolgende wie mich immer war: Informationsträger. Nicht mehr, aber vielleicht auch weniger. Denn wenn sich Zeilingers These als plausibel erweisen sollte, könnte ja das Universum aus purer Information bestehen und alles Feste, Anfassbare, was wir bislang für ‚Materie‘, ja für ‚Realität‘ hielten, wird zu einer Schopenhauerschen oder hinduistischen ‚Vorstellung‘, einer Illusion – die Hindus nennen sie ‘Maya’ und vergleichen sie mit einem Traum, aus dem es irgendwann zu erwachen gilt. Doch wenn wir vorläufig noch von der Existenz eines materiellen Universums ausgehen und im Rahmen der vorgefundenen Parameter ‘Zeit’, ‘Raum’, ‘unterscheidbare, in Beziehung und Konflikt tretende Entitäten’ Informationen transportieren wollen, sind wir auf materielle Träger angewiesen: Zwischenspeicherung im Gehirn, Übertragung über Schallwellen, Speicherung auf Datenträgern, Schriftstücken, technischen Geräten – was auch immer wir benutzen, es ist Materie (im bislang vertrauten Sinne) mit im Spiel. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend. Und sie ist austauschbar. Dieselbe Information kann mithilfe unterschiedlichster Träger transportiert werden.

Der österreichische Quantenphysiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger

Einmal am Zielort angekommen, hat der Informationsträger seine Funktion erfüllt und wird überflüssig, quantité négligeable. Das Wichtige ist die Information, platonisch: die Idee, die mit einem materiellen Hilfsmittel transportiert wurde. Und mithilfe der Deutung der Information bringt man, wenn auch meist nicht ganz anstrengungslos, auch den Zufall zu Fall. Deutung birgt immer die Chance, der Wahrnehmung, dem Ereignis auf die Schliche zu kommen, ihm einen Sinn, eine Botschaft abzutrotzen. Der Materialist, der zufällig von einem Besoffenen angefahren wird, kann zwar den Tathergang haargenau aufschlüsseln bis ins letzte Detail, wie welches Autoteil welchen seiner Knochen gebrochen hat. Nur hilft ihm das für die Zukunft nicht weiter, ausser er wäre selbst Chirurg oder Autobauer und könnte seine berufliche Kompetenz erweitern. Da der Materialist das Geschehen mit dem Etikett ‘Zufall’ abtut, stellt er sich gar keine weiteren Fragen wie ‘Warum ich? Warum jetzt? Woran hindert es mich? Wozu zwingt es mich?’ Denn das sind Fragen, die über sein materialistisches Weltbild hinausgehen. Er bleibt unbedarft vor dem Zufall stehen wie der legendäre Ochs am Berg.

Wobei – zugegeben – dieser Ochs ein Muni ist und sich auf oder am Berg recht wohl zu fühlen scheint

These 6: Hermeneutik – die Kunst der Deutung – ist eine lohnende Tätigkeit, die weit über rein rationale Denkanstrengungen hinausgeht und auch sämtliche Sinne, Empfindungen, Intuition und weitere suprarationale Fähigkeiten erfordert, beschäftigt und trainiert. Und sie bringt – hartnäckig genug betrieben – den Zufall zu Fall bzw. macht ihn zu dem, was dem Deutenden sinnvollerweise zufällt.

Zufallendes…

Darüber hinaus hält Hermeneutik uns wach, fit, promoviert unsere Eigenverantwortung und macht sehr oft sogar Spass. ‘Deutung’ meint hier die durchaus herausfordernde, anstrengende Suche nach Bedeutung, die intensive Suche nach einer umsetzbaren Botschaft, nach einem Sinn in einem Ereignis, der zu Einsichten, Erkenntnissen und vielleicht auch zu Änderungen in der Haltung, im Denken, Fühlen, Tun des Suchenden führt. Dass sich die Suche lohnt, das alles einem Individuum Geschehende, von ihm Wahrgenommene eine Botschaft für ihn und vielleicht nur für ihn enthält, ist natürlich eine Behauptung ohne jeglichen Anspruch auf absolute Wahrheit. Aber da alle anderen Konzepte auch keinen Anspruch auf alleinige und einzige Wahrheit haben, können wir es uns erlauben, nach persönlichem Gusto, zum Beispiel nach Nützlichkeitserwägungen zu selektionieren. Wer es gern einfach hat, gechillt, die Denkerei gern anderen überlässt, sich gern führen lässt und auch nicht allzu neugierig oder gar erkenntnishungrig ist und allen Formen von Eigenverantwortung möglichst aus dem Weg geht, wird mit Vergnügen beim Konzept ‘Zufall ist das, was – von mir unerwartet und unvorhersehbar – passiert’ bleiben und es raubt ihm keineswegs den Schlaf des Gerechten, wenn sich so haufenweise Zufälle ansammeln in seinem Leben. Wer hingegen eher zum Denk-Junky tendiert, neugierig und erkenntnishungrig ist, gern haufenweise Eigenverantwortung übernimmt, nach grösstmöglicher Selbstbestimmung strebt und vielleicht sogar ein Ermittler-Gen in sich trägt, für den ist das, was andere Zufall nennen, eine Herausforderung, die den Rätsellöser weckt.

Sherlock Holmes, der legendäre Ermittler…

Er will den Dingen auf den Grund gehen und wird zum Sherlock Holmes der Hermeneutik. Er rückt den vermeintlichen Zufällen deutend zu Leibe und ruht nicht, bis er jedem materiellen, ihn betreffenden, ihn ‘kratzenden’ Ereignis wenigstens eine minimale Botschaft abgetrotzt hat und sagen kann, dass es ihm sinnvollerweise zugefallen ist und offenbar genau diesen Informationsträger brauchte, um bei ihm anzukommen, um ihm zufallen zu können.

These 7: Ereignis ist nicht Strafe, Sinn ist nicht Lehrmeisterei, Botschaft nicht Drohung, Eigenverantwortung nicht Schuld.

Die Inquisition machte kurzen Prozess mit Sinnsuchenden, die auf etwas anderes als die offizell abgesegnete Ge-Sinn-ung kamen. Vor allem Germanien ist auf bestem Weg, diese Methoden wieder aufleben zu lassen.

Religionsversehrte reagieren auf mein hermeneutisches Konzept des Umgangs mit vermeintlichen Zufällen oft mit mittelalterlich verzerrten oder sonstigen Argumenten, die zeigen, dass sie das Konzept nicht verstanden haben: ‘Da kommt ja wieder der strafende Gott und der verführende Teufel ins Spiel!’ – ‘Die blöde Schuldaufladerei haben wir doch hinter uns!’ – ‘Überlasst die Schulmeisterei den Pfaffen!’ – ‘Wir sollen zerknirscht nach Botschaften suchen, die nur verkappte Drohungen sind?’ – ‘Wieso soll ich mehr Eigenverantwortung übernehmen als mir der miese Staat und die fiese Gesellschaft schon aufbürden?’ – Zugegeben, Eigenverantwortung für alles zu übernehmen, was uns in unserem Leben widerfährt, ist ein starkes Stück. Aber wenn wir lernen, auch Ungemach als Herausforderung, generell Schicksal als Chance zu betrachten, kehrt sich die gängige Lower-class-Wertung plötzlich um. Dann verblasst der Neid auf die mit dem goldenen Löffel in schnuckligem Umfeld, sicherer Gesellschaft und zartfühlender Familie in Friedenszeiten Aufwachsenden, lebenslänglich von Erfolg und Mammon Verfolgten. Die haben sich ja eine super einfache Aufgabe gestellt, sind sozusagen am Anfang der Entwicklung. Und der Respekt wächst vor Menschen, die sich eine schwierigere Aufgabe gestellt haben, in Kriegszeiten in eine lieblose Familie hinein inkarnierten und ein Leben lang mit Krankheit, Leid, Misserfolg zu kämpfen hatten. Das sind Menschen, die sich mehr zumuten, die vielleicht ein paar Runden weiter sind und deshalb grössere Eigenverantwortung wahrnehmen können. Eigentlich ist uns diese Optik aus dem Sport vertraut. Bei der lokalen Kleinveranstaltung sind die Hindernisse winzig, alle kommen drüber und gehen selbstgefällig und schulterklopfend nach Hause.

Andrew Nicholson bleibt locker – auch auf der schwersten Geländestrecke der Welt (hier mit Quimbo in Burghley)

In Badminton und Burghley stehen riesige beeindruckende Hindernisse und nicht alle Teilnehmer sehen das Ziel. Aber das Ziel ist nicht die ‘Sack-Gumpete’ in Hinterniederscherliwil, sondern die Nullrunde in Badminton – oder eben das Leben als Behinderter im Krieg unter widrigsten Umständen. Nur schon diese Umkehrung der Bewertung des eigenen Lebens nach dem Mass der gewählten Herausforderungen macht es lohnenswert, das Konzept zu durchdenken.

These 8: Gnothi seauton

Die von eisgekühlten Materialisten als Don Quichotterie belächelte Jagd nach Sinn und Botschaft in allem, was uns beflügelt oder sticht, die grossen Denk-Anstrengungen, um nicht beim Verdikt ‘Zufall’ stehen zu bleiben, dienen natürlich nicht nur dem Spass am Hirn-Wettbewerb, sondern dem steinalten Spruch, der über dem Eingang des Apollo-Tempels, dem legendären ‘Orakel von Delphi’ steht: Gnothi seauton. Wenn man den Spruch mit ‘Erkenne dich selbst’ übersetzt, nicken sogar Hardcore-Materialisten, denken aber im Stillen: ‘Was soll die Nabelschau. So wichtig ist der Einzelne nicht. Viel interessanter ist es, die WELT zu erforschen, zu erkennen: ‚Dass ich erkenne, was die Welt, im Innersten zusammenhält‘, wie Goethes Faust schon reimte. -Ein gutes Argument, finde ich. Wenn der Selbsterkenntnishungrige nur auf der Suche nach seinen Befindlichkeiten und Wehwehchen ist, dann finde ich die aktuelle Version der String-Theorie auch interessanter. Der dem Materialisten und Welt-Erforscher meist nicht bewusste Unterschied ist aber, dass die etwas tiefere Übersetzung von gnothi seauton lautet: ‘Erkennen dein Selbst’ oder noch präziser: ‘Erkenne das Selbst’. Es geht nicht um das ‘Ich’ des Erkennenden, sondern um das Selbst. C.G. Jung hat sich intensiv mit dem Selbstkonzept auseinandergesetzt und es existiert eine reiche Sekundärliteratur dazu. Hier nur eine ganz kurze Ableitung. ‘Selbst’ meint ‘das Ganze’, theologisch gesprochen ‘Gott in uns’, für den Materialisten ‘die Welt in uns’. Damit schliesst sich der Kreis und die coniunctio oppositorum – die Vereinigung der Gegensätze – wird möglich. Auch der Hermeneutiker, der Sinnsuchende, der nach einer ihn betreffenden Botschaft Forschende will ‘die Welt’ verstehen. Aber im Unterschied zum Materialisten ist für ihn ‘Welt’ nicht ein Gegenüber, nicht ‘das ganz andere’, sondern sie ist in ihm genauso wie er in ihr. Er trennt nicht zwischen sich und Welt, sondern fasst beides zusammen im ‘Selbst’. Und er gibt sich nicht mit der Endstation ‘Zufall’ zufrieden, wenn er auf Unvorhersehbares, prima vista Unerklärliches trifft, sondern bohrt mit den Instrumenten der causa finalis und der Hermeneutik weiter, bis er die Botschaft, den Sinn des Wahrgenommenen findet, sein Bewusstsein erweitert und den Teil des Selbst, den er in der aktuellen Inkarnation im Aussen verkörpert, im Innern erweitert.

Fazit: Take it or leave it

Ich bin weder Missionar in Sachen Hermeneutik noch biete ich Deutungsunterricht an, und ich bin keinem Gram, der frohgemut weiterhin alles ‘Zufall’ nennt, was ihm unerwarteterweise widerfährt. Aber ich lade mit Vergnügen alle Denkfreudigen dazu ein, das hermeneutische Konzept zumindest einmal kurz auszuprobieren und zu testen, ob sie mit so viel Eigenverantwortung klar kommen können und wollen.

Der Denker von Rodin denkt schon ein Weilchen darüber nach. Wir können uns also auch Zeit lassen damit.

Share this post on: